Man sagte ihm, er solle aufhören zu jammern, doch kurz darauf spürte Adelia, wie das Boot noch stärker wackelte, und dann hörte sie die Männer vor ihr fluchen. Sie schloss aus ihren Schimpfereien, dass sie jetzt zwar voneinander losgeschnitten worden waren, aber jeder einzelne noch immer die Hände gefesselt hatte.
Dennoch, nun konnten die drei schneller schöpfen – und taten es auch. Adelia verlagerte ihre Wut auf Dakers, die einfach so gestorben war, nach allem, was sie, Adelia Aguilar, für sie getan hatte. »Undank ist der Welt Lohn«, knurrte sie und packte das Handgelenk der Frau. Zum zweiten Mal in dieser Nacht spürte sie einen schwachen Puls.
Sie beugte sich so weit vor, dass sie fast den Hund auf ihrem Schoß zerquetschte, und riss Dakers’ Füße aus dem Bilgewasser. Um sie zu wärmen, schob sie einen zwischen die Körper von Rowley und Jacques und den anderen zwischen Jacques und Walt.
»Wie lange sollen wir denn hier noch sitzen?«, schrie sie über deren Köpfe hinweg die Soldaten an. »Herrje, wann bewegen wir uns endlich?«
Aber der Wind brüllte lauter, als sie das vermochte. Die Männer hörten sie nicht. Rowley jedoch deutete mit einem Nicken auf die Lücke.
Sie spähte hinaus in den wirbelnden Schneevorhang. Sie bewegten sich, bewegten sich schon seit einer ganzen Weile und hatten gerade eine Biegung erreicht, wo ihnen offenbar ein Steilufer oder hohe Bäume etwas Schutz boten.
Sie wusste nicht, ob die Barkasse vor ihnen, an der sie angebunden waren, von Männern gestakt oder von einem Pferd gezogen wurde – es war jedenfalls für Mensch oder Tier eine grässliche Aufgabe. Wahrscheinlich wurde sie gestakt; sie schienen schneller voranzukommen als nur mit Schrittgeschwindigkeit. Der Wind in ihrem Rücken und die Strömung des Flusses trugen sie zusätzlich weiter, mitunter auch zu schnell – der Bug ihres Bootes stieß gegen das Heck der Barkasse, und die Soldaten wechselten sich darin ab, unter dem Schutz des Segels hervorzukriechen und mit einem Ruder Abstand zu halten.
Sie wusste auch nicht, wie weit es noch bis Oxford war, aber wenn sie weiter so gut vorankamen, konnte es bis Godstow nicht mehr allzu lange dauern – und dort musste sie irgendwie ans Ufer gelangen.
Nachdem dieser Entschluss gefasst war, fühlte Adelia sich ruhiger und wurde wieder zur Ärztin – zu einer Ärztin, die eine kranke Patientin zu versorgen hatte. Ihre extreme Wut war zum Teil darauf zurückzuführen gewesen, dass sie Hunger hatte. Ihr kam der Gedanke, dass Dakers wahrscheinlich noch hungriger war als sie, schon fast verhungert – in der Küche in Wormhold war nichts Essbares mehr gewesen, als sie sie erkundet hatten.
Adelia mochte ja die diebischen Söldner verurteilen, doch auch sie hatte Rosamunds Zimmer nicht mit leeren Händen verlassen; auf dem Tablett der Königin war noch Essen übrig gewesen, und sie hatte in harten Zeiten gelernt, sich immer dann mit Nahrung zu versorgen, wenn sich die Gelegenheit bot.
Und überhaupt, Rosamund würde es nicht vermissen.
Sie griff in ihre Tasche, holte den in einer Serviette eingeschlagenen Rest von Eleanors Kalbfleischpastete hervor und brach ein großes Stück ab, das sie Dakers unter die Nase hielt. Schon allein der Duft wirkte wie ein Stärkungsmittel; die Pastete wurde ihr aus den Fingern gerissen.
Sie passte auf, dass die Soldaten, die sie unter dem Segel kaum sehen konnte, nichts davon mitbekamen, als sie sich erneut vorbeugte und den Käse, den sie ebenfalls hatte mitgehen lassen, zwischen Jacques und Rowley schob, bis sie spürte, dass die gefesselten Hände von einem der beiden ihn ertasteten, ergriffen und ihr kurz zum Dank die Hand drückten. Als die Männer daraufhin kurz das Wasserschöpfen unterbrachen, wohl um heimlich den Käse aufzuteilen, wie Adelia vermutete, wurden sie prompt wieder von den Soldaten angeschnauzt.
Die restliche Kalbfleischpastete teilte sie zwischen sich und Wächter auf.
Danach blieb nur wenig zu tun, außer auszuharren und Wasser zu schöpfen. Mitunter hing das Segel so tief zwischen ihnen herab, dass einer der Männer von unten dagegenschlagen musste, um den Schnee abzuschütteln, der es immer schwerer werden ließ.
Der Pegel des Wassers, das unter ihren erhobenen Beinen schwappte, wollte einfach nicht sinken, ganz gleich, wie viel sie über Bord kippte. Jedes Ausatmen benetzte ihren Mantel, den sie bis unter die Nase gezogen hatte, und die Feuchtigkeit gefror augenblicklich, so dass ihre Lippen wund wurden. Das Segeltuch schabte über ihren Kopf, wenn sie sich bückte und wieder hochkam. Aber wenn sie aufhörte, würde die Kälte das Blut in ihren Adern erstarren lassen.
Schöpfe weiter, bleib am Leben, lebe, um Allie wiederzusehen.
Rowleys Ellbogen stieß gegen ihre Knie. Sie schöpfte weiter, vorbeugen, eintauchen, ausschütten, vorbeugen, eintauchen, ausschütten; sie tat es seit einer Ewigkeit und würde es weiter bis in alle Ewigkeit tun. Rowley musste sie noch einmal anstoßen, ehe sie merkte, dass sie aufhören konnte. Es kam kein Wasser mehr ins Boot.
Der Wind hatte nachgelassen. Eine gedämpfte Stille umgab sie, und ein schwaches Licht – war es Tag? – drang durch den Spalt im Segel, vor dem der Schnee so dicht fiel, dass das Auge den trügerischen Eindruck hatte, das Boot gleite durch von Schwanendaunen erfüllte Luft.
Von der Kälte, die gleichfalls durch die Lücke drang, waren Adelias rechte Seite und Schulter gefühllos geworden. Sie presste sich gegen Rowleys Rücken, um sich und ihm ein wenig Wärme zu verschaffen, und zog Dakers mit nach vorne, so dass die Haushälterin gegen Jacques lehnte.
Rowley wandte leicht den Kopf, und sie spürte seinen Atem an der Stirn. »Und?«
Adelia schob sich etwas höher, um über seine Schulter zu spähen. Obwohl der Wind sich etwas gelegt hatte, war die Strömung schneller denn je und drohte, das Ruderboot gegen die Barkasse zu schieben oder Richtung Ufer zu drehen.
Einer der Soldaten – sie glaubte, es war Cross, der Jüngere der beiden – war damit beschäftigt, den Zusammenstoß zu verhindern, und hatte den Schutz des Segels verlassen, das nun tief über seinem Gefährten hing, der schlaff auf der vorderen Ruderbank saß, entkräftet oder eingeschlafen oder beides.
Auch Walt oder Jacques bewegten sich nicht mehr. Dakers lehnte noch immer an Jacques’ Rücken.
Adelia schob Rowleys Kapuze mit der Nase von seinem Ohr weg und legte die Lippen daran: »Sie wollen Eleanors Banner in Oxford hissen. Sie glauben, die Midlands werden sich erheben und sich auf ihre Seite schlagen.«
»Wie viele Männer? In Oxford, wie viele Männer?«
»Eintausend, glaube ich.«
»Hab ich da vorhin am Turm Eynsham gesehen?«
»Ja. Wer ist das?«
»Hundsfott. Gerissen. Hat Einfluss beim Papst. Trau ihm nicht.«
»Schwyz?«, fragte sie.
»Hundsfott von Söldner. Erstklassiger Soldat.«
»Einer namens Wolvercote ist der Heerführer in Oxford.«
»Hundsfott.«
Damit waren also die Hauptakteure hinlänglich abgehandelt. In einer momentanen Aufwallung schmiegte sie ihr Gesicht an seine Wange.
»Hast du dein Messer dabei?«, fragte er.
»Ja.«
»Schneid diesen verdammten Strick durch.« Er schüttelte seine gefesselten Hände.
Sie schaute erneut zu dem Soldaten hinüber, der im Bug hockte. Er hatte die Augen geschlossen.
»Nun mach schon.« Rowleys Lippen bewegten sich kaum. »Ich steig nämlich gleich aus.« Als ob sie beide eine Vergnügungsfahrt machten und ihm gerade eingefallen wäre, dass die nächste Anlegestelle für ihn günstiger war.
»Nein.« Sie schlang die Arme um ihn.
»Lass mich«, sagte er, »ich muss Henry finden. Ihn warnen.«
»Nein.« In diesem Schneesturm würde keiner keinen finden. Er würde sterben. Im Sumpfland erzählte man sich Geschichten über diese Art von Sturm, von arglosen Kleinbauern, die sich hinausgewagt hatten, um ihre Hühner einzusperren oder eine Kuh hereinzuholen, und dann nicht mehr zurückfanden durch ein eisig wirbelndes Weiß, das ihnen die Sicht und den Orientierungssinn raubte, so dass sie nur wenige Schritte vor ihrer eigenen Haustür steif und tot endeten. »Nein«, wiederholte sie.