»Schneid den verdammten Strick durch.«
Der Soldat im Bug bewegte sich und murmelte: »Was macht ihr da?«
Sie warteten, bis er sich wieder beruhigt hatte.
»Willst du, dass ich mit gefesselten Händen verschwinde?«, hauchte Rowley.
Herrgott, wie sie ihn hasste. Und Henry Plantagenet hasste. Der König, immerzu der König, und wenn es mein Leben kostet, deines, das unseres Kindes, alles Glück.
Sie griff in ihre Tasche, umklammerte das Messer und erwog einen Moment lang ernsthaft, es ihm ins Bein zu stoßen. Dann könnte er nicht im Kreis herumirren und als Eishaufen auf irgendeinem Feld enden.
»Ich hasse dich«, sagte sie zu ihm. Tränen gefroren an ihren Wimpern.
»Ich weiß. Schneid den verdammten Strick durch.«
Sie schob die rechte Hand mit dem Messer weiter um ihn herum, beobachtete dabei den Mann im Bug, fragte sich, warum sie ihn nicht warnte, damit er Rowley festhielt …
Sie konnte nicht; sie wusste nicht, welches Schicksal Eleanor ihrem Gefangenen zugedacht hatte oder was, selbst wenn sie nichts Arges im Schilde führte, Eynsham oder Schwyz mit ihm machen würden.
Ihre Finger fanden seine Hände und tasteten sich zu dem Strick an den Handgelenken. Sie begann zu schneiden, vorsichtig – das Messer war so scharf, dass sie ihm mit einer falschen Bewegung die Schlagader öffnen könnte.
Ein Strang war durchtrennt, und wieder einer. Während sie arbeitete, zischte sie gehässig. »Deine Buhlin bin ich, ja? Für die du keine Verwendung hast, ja? Ich hoffe, du schmorst in der Hölle – und Henry gleich mit.«
Der letzte Strang fiel, und sie fühlte, wie er die Hände bewegte, um das Blut wieder in Gang zu bringen.
Er wandte den Kopf, damit er sie küssen konnte. Sein Kinn strich über ihre Wange.
»Überhaupt keine Verwendung«, sagte er. »Außer dass du die Sonne aufgehen lässt.«
Und dann war er fort.
Jacques übernahm die Führung. Adelia hörte, wie er ein Schluchzen in seine Stimme legte, als er dem wütenden Cross erklärte, der Bischof sei bei dem Zusammenstoß mit dem Ufer über Bord gefallen.
Sie hörte den Söldner erwidern. »Dann ist er hin.«
Jacques brach in lautes Gejammer aus, nahm aber gleichzeitig Wächter von Adelias Schoß, zog sie herüber, so dass sie nun zwischen ihm und Walt saß und die schlafende Dakers an ihrem Rücken lehnte, und schob dann den Hund wieder unter ihren Umhang.
Sie nahm die Veränderung kaum wahr. Außer dass du die Sonne aufgehen lässt.
Dem werd ich die Sonne aufgehen lassen, wenn ich ihn wiedersehe.
Ich bring ihn um. Gütiger Gott, beschütze ihn.
Es hörte auf zu schneien, und die tiefen Schneewolken trieben gen Westen davon. Als die Sonne hervorkam, rollte Cross in der Hoffnung, ein wenig Wärme abzubekommen, das Segel zurück.
Auch das registrierte Adelia kaum, bis Walt sie anstieß. »Was is ’n mit dem los, Mistress?«
Sie hob den Kopf. Die beiden Söldner saßen ihr gegenüber auf der vorderen Ruderbank. Derjenige, der Cross genannt wurde, versuchte seinen Gefährten zu wecken. »Komm schon, Giorgio, hoch mit dir. War doch nicht deine Schuld, dass wir diesen dämlichen Bischof verloren haben. Nun komm schon.«
»Er ist tot«, erklärte Adelia. Die Stiefel des Mannes steckten fest im gefrorenen Bilgewasser. Ein weiterer Erfrorener unter den vielen anderen dieser Nacht.
»Das kann nicht sein. Das kann nicht sein. Ich hab ihn doch warm gehalten, na ja, so gut ich konnte.« Cross’ übellauniges Gesicht war schmerzverzerrt.
O Gott, der Tod dieses Mannes geht ihm nahe. Und er sollte mir auch nahegehen, dachte Adelia.
Um den Schein zu wahren, streckte sie die Hand aus und legte sie an den Hals des Mannes, wo sein Puls sein müsste. Er war totenstarr. Sie schüttelte den Kopf. Der Mann war erheblich älter gewesen als sein Freund.
Jacques und Walt fielen auf die Knie. Sie ergriff die Hand des lebenden Soldaten. »Es tut mir leid, Master Cross.« Sie sprach die Schlussworte. »Möge Gott seiner Seele gnädig sein.«
»Er hat doch bloß hier gesessen und sich warm gehalten, hab ich gedacht.«
»Ich weiß. Ihr habt für ihn getan, was Ihr konntet.«
»Wieso seid ihr dann nicht alle tot?« Sein Zorn kehrte zurück. »Ihr habt doch genauso dagesessen wie er.«
Es war unnötig, ihm zu erklären, dass sie Wasser geschöpft und sich daher bewegt hatten, genau wie Cross selbst, der zwar dem Wind ausgesetzt gewesen war, aber doch immer in Bewegung, um Zusammenstöße zu verhindern. Und der arme Giorgio hatte allein gesessen, ohne menschliche Wärme neben sich.
»Es tut mir leid«, sagte sie erneut. »Er war alt und hat die Kälte nicht verkraftet.«
Cross sagte: »Von ihm hab ich das Soldatenhandwerk gelernt, er hat’s mir beigebracht. Wir haben drei Feldzüge gemeinsam überstanden. Er war Sizilianer.«
»Ich bin auch aus Sizilien.«
»Oh.«
»Bewegt ihn nicht«, sagte sie beschwörend.
Cross versuchte, den Toten anzuheben, um ihn ausgestreckt neben die Ruderbank zu legen. Doch wie bei Rosamund würde auch hier die Starre anhalten, bis der Körper ins Warme kam – wofür diese Sonne nicht ausreichte –, und der Anblick, wie er auf dem Rücken lag und Hände und Füße in die Luft ragten wie bei einem Hund, wäre für seinen Freund bestimmt schwer erträglich.
Walt sagte: »Gott sei Dank, ich glaub, da vorn is Godstow.«
Allie.
Sie bemerkte die diamantharte Landschaft, die sie umgab und so grell glitzerte, dass sie die Augen abschirmen musste, um sich umzuschauen. Bäume waren umgestürzt, die Wurzeln wie gespenstische, verzweifelte, dürre Finger, die flehend erstarrt waren. Ansonsten schien alles von dem monströsen Gewicht des Schnees abgeflacht worden zu sein, denn Bodensenken waren nur noch flache Mulden zwischen sanften Erhöhungen. Schnurgerade Rauchfäden, die in einen kornblumenblauen Himmel hinaufstiegen, verrieten ihnen, dass die vereinzelten Buckel am Hang über dem Ufer halb eingeschneite Häuser waren.
In der Ferne war eine kleine geduckte Brücke zu sehen, weiß wie Marmor.
In einem anderen Jahrhundert hatte sie einmal mit Rowley nachts dort gestanden. Dahinter – sie musste die Augen zu kleinen Schlitzen zusammenpressen, um es zu sehen – waren viele Rauchfäden, und dort, wo die Brücke endete, ein Wald und etwas, das aussah, wie ein Tor.
Sie waren gegenüber dem Dorf Wolvercote. Dort hinten lag, obwohl sie sie nicht sehen konnte, die Abtei Godstow. Wo Allie war.
Adelia stand auf, rutschte aus und brachte das Boot ins Schwanken, als sie hastig versuchte, wieder hochzukommen. »Bringt uns ans Land«, sagte sie zu Cross, doch er schien sie gar nicht zu hören.
Walt und Jacques zogen sie runter.
Der Bote sagte: »Nicht gut, Mistress, selbst wenn …«
»Seht Euch das Ufer an, Mistress«, forderte Walt sie auf.
Sie schaute hinüber – eine kleine Klippe, wo flache Weiden sein sollten. Dahinter ragten Gebilde auf, die aussahen wie riesige gefrorene Büsche, doch in Wahrheit handelte es sich um das Geäst hoher Eichen, die verloren in – wie Adelia schätzte – mindestens fünfzehn Fuß hohen Schneewehen standen.
»Da kämen wir niemals durch«, sagte Jacques jetzt.
Sie flehte, bettelte und wusste doch, dass er recht hatte. Vielleicht würden die Dorfbewohner, wenn sie sich ausgegraben hatten, Tunnel durch den Schnee schaufeln, um den Fluss zu erreichen, doch bis dahin, oder bis Tauwetter einsetzte, war sie vom Kloster ebenso abgeschnitten, als läge ein ganzes Gebirge davor. Sie würde in diesem Boot sitzen bleiben müssen und an Allie vorbeifahren, und nur Gott allein wusste, wann oder ob sie je wieder zu ihr zurückkehren konnte.