Adelia beugte sich vom Bett herab, hob ihre Tochter hoch, drückte die Nase gegen den weichen Samt ihrer Wange und setzte sie sich auf die Knie, so dass sie einander ansahen.
»Wir gehen nach Hause, nicht, Mistress? Jawohl, das tun wir. Wir lassen uns nicht in ihre blöden Kriege verwickeln, nicht? Nein, auf keinen Fall. Wir gehen weit weg, wir fahren zurück nach Salerno, uns ist egal, was der fiese alte König Henry sagt, nicht wahr? Irgendwie kriegen wir das Geld schon zusammen. Zieh nicht so ein Gesicht …« Denn Allie hatte die Unterlippe vorgeschoben und zeigte ihren neuen Zahn mit einer Miene, die irgendwie an das Kamel in der Menagerie von Salerno erinnerte. »Salerno wird dir gefallen, da ist es warm. Wir werden mit Mansur und Gyltha und Ulf reden, jawohl, das machen wir. Dir fehlt Ulf, nicht? Mir auch.«
Bei einer Ermittlung wie dieser – wenn sie sie weiterverfolgt hätte – wäre Gylthas Enkel ihr Auge und Ohr gewesen, weil er sich unbemerkt überall herumtreiben konnte, wie das nur einem elfjährigen Bengel möglich war, und weil sich hinter seinem nicht gerade ansehnlichen Gesicht ein ungemein gescheiter Verstand verbarg.
Dennoch, Adelia dankte Gott, dass zumindest Ulf außer Gefahr war. Aber sie ertappte sich bei der Frage, was der Junge wohl zur Lage gesagt hätte …
Allie fing an zu zappeln, wollte weiter Jagd auf Wächter machen, also setzte Adelia sie geistesabwesend wieder auf den Boden und lauschte auf die unnachgiebige kleine Stimme in ihrem Kopf, die wie eine hartnäckige Krähe Fragen stellte.
Zwei Morde, nicht? Rosamund und der Kerl auf der Brücke. Hängen die nicht vielleicht zusammen?
»Ich weiß nicht. Ist auch egal«, sagte sie laut zu sich selbst.
Würde davon abhängen, wer hier auftaucht, würd ich sagen. Irgendwer muss doch herkommen und rausfinden wollen, wieso es kein großes Hallo um den Toten auf der Brücke gegeben hat, was? Wer das gemacht hat, wollte, dass er tot ist und dass es ein Mordsgeschrei drum gibt, stimmt doch, oder?
»Davon bin ich ausgegangen. Aber es war keine Zeit, der Schnee wird den- oder diejenigen aufgehalten haben.«
Es ist aber wer gekommen.
»Interessiert mich nicht. Ich will nach Hause, ich hab Angst.«
Und den armen Kerl willste einfach im Eishaus lassen, ja? Sehr gottesfürchtig, muss ich schon sagen.
»Ach, sei still.«
Adelia legte Wert auf Ordnung. In gewisser Weise ging es auch in ihrem Beruf darum – denn eines konnte man den Toten zumindest zugute halten: Sie trafen keine unvorhergesehenen Entscheidungen und bedrohten dich auch nicht mit dem Messer. Machtlos zu sein und anderen ausgeliefert – vor allem wenn diese Böses im Schilde führten –, wie Adelia es in Wormhold und auf dem Fluss gewesen war, hatte sie zutiefst verunsichert.
Das Kloster umschloss sie. Der lange, niedrige, schlichte Raum kündete von wohltuender Harmonie. Es war jetzt dunkel draußen, und die Glut im Kohlenbecken erzeugte bei jedem Deckenbalken einen Schatten, malte ein angenehm gleichmäßiges Muster aus dunklen und weniger dunklen Bahnen auf den weißen Putz. Obgleich gedämpft durch die Wolle, die Gyltha zum Schutz gegen die Kälte in die Ritzen der Fensterläden gestopft hatte, vermittelten die fernen Stimmen der Nonnen, die die Vesper sangen, die Beruhigung von tausend Jahren disziplinierter Gleichförmigkeit.
Und all das war trügerisch, weil hier im Eishaus eine Leiche lag und sieben Meilen entfernt eine tote Frau an einem Schreibtisch saß. Beide warteten sie auf … ja, auf was?
Aufklärung.
Adelia flehte die Toten an: Ich kann sie euch nicht geben, ich fürchte mich, ich will nach Hause.
Aber bruchstückhafte, beinah vergessene Bilder drängten sich ihr unaufhörlich in den Sinn: Fußspuren im Schnee auf der Brücke, ein zerknitterter Brief in einer Sattelrolle, andere Briefe, abgeschriebene Briefe, Berthas schweinsähnliche Nase, die einen Geruch erschnüffelt …
Gyltha kam zurück und brachte eine große Schüssel Eintopf mit Hammelfleisch und ein paar Löffel mit; sie hatte ein Brot unter einem Arm und unter dem anderen eine Lederflasche Ale. Sie goss etwas Eintopf in Allies Schälchen und begann, ihn zu einem Brei zu zermatschen. Die Fleischstücke zerkaute sie mit ihren großen, starken Zähnen, bis auch sie nur noch Matsch waren, und gab sie dann zurück ins Schälchen. »Weiße Rüben und Gerste«, sagte sie. »Eins muss ich den Schwestern lassen, die machen ein anständiges Abendessen. Und heute Morgen gab’s gute warme Milch von der Kuh mit ein bisschen Porridge für die Kleine.«
Da die Erwähnung eines der Probleme des Klosters der Situation irgendwie mehr Realität gab, fragte Adelia widerwillig: »Ist Bertha noch immer im Kuhstall?«
»Kommt einfach nich raus, das arme Ding. Will die alte Dakers sie immer noch abmurksen?«
»Nein, ich glaub nicht.«
Allie zu füttern, die beherzte Anstrengungen unternahm, sich selbst zu füttern, bedurfte einer Konzentration, die keinen anderen Gedanken mehr zuließ.
Als sie die letzten Essensreste aus Allies und ihren eigenen Haaren geklaubt hatten, wurde das Kind ins Bett gelegt, und die beiden Frauen aßen ihr Nachtmahl schweigend, die Füße nah zum Kohlenbecken gestreckt, während die Flasche Ale zwischen ihnen hin und her wanderte.
Wohlig warm und mit abklingenden Schmerzen dachte Adelia, dass die hagere alte Frau auf dem Hocker ihr gegenüber die einzige Sicherheit war, die es derzeit in ihrer Welt gab. Es verging kein Tag ohne den Gedanken daran, wie viel Dankbarkeit sie Prior Geoffrey dafür schuldete, dass er sie miteinander bekannt gemacht hatte, doch auch kein Tag ohne die jähe Angst, Gyltha könnte sie verlassen, oder ohne dass sie sich verwundert die Frage stellte, warum sie blieb.
Adelia sagte: »Gyltha, macht es dir was aus, hier zu sein?«
»Geht nich anders, Mädchen. Wir sind eingeschneit. Schneit schon wieder, wenn du’s gemerkt hast. Der Weg runter zum Fluss is schon wieder dicht.«
»Ich meine, quer durchs Land zu reiten, um hierherzukommen, weit weg von daheim, Mord … das alles. Du beklagst dich nie.«
Gyltha pulte eine Faser Hammelfleisch zwischen den Zähnen hervor, betrachtete sie und schob sie sich wieder in den Mund. »So krieg ich auch mal was zu sehen, denk ich«, sagte sie.
Vielleicht war es das. Frauen mussten meist da bleiben, wo sie waren, in Gylthas Fall das Sumpfland von Cambridgeshire, eine Gegend, die Adelia zwar ungemein exotisch fand, die aber ohne jeden Zweifel flach wie ein Brett war. Wieso sollte Gylthas Herz nicht wie das eines Kreuzfahrers für Abenteuer in der Fremde entflammen? Oder sich ebenso sehr – wie es Rowley ergangen war – danach sehnen, den Frieden Gottes in ihrem Land bewahrt zu sehen? Oder trotz aller Gefahren dafür sorgen wollen, dass Gottes Gerechtigkeit denjenigen widerfuhr, die ein Menschenleben genommen hatten?
Adelia sah sie kopfschüttelnd an. »Was würde ich nur ohne dich tun?«
Gyltha goss den Rest Eintopf aus Adelias Schale in ihre eigene und stellte sie für Wächter auf den Boden. »Vor allem hättste keine Zeit, rauszufinden, wer den armen jungen Burschen erledigt hat oder warum Rosamund dran glauben musste.«
»Oh«, seufzte Adelia, »na schön, lass hören.«
»Was willst du hören?« Aber Gyltha grinste zufrieden.
»Das weißt du ganz genau. Wer ist hier aufgetaucht? Wer hat Fragen nach dem Jungen im Eishaus gestellt? Jemand wollte, dass er gefunden wird, und ich wette, dieser Jemand wird sich umhören, warum das nicht geschehen ist. Wer ist es?«
Es war mehr als einer. In Adelias Abwesenheit waren vier Menschen in Godstow eingetroffen, als hätte der Schnee sie vor sich hergeweht, um sie hier einzusperren.
»Master und Mistress Bloat aus Abingdon. Das sind die Ma und der Pa von dieser jungen Emma, die du so magst. Wollen bei ihrer Hochzeit dabei sein.«
»Wie sind sie?«
»Dick.« Gyltha hob die Arme, als wollte sie einen mächtigen Baumstamm umfassen. »Dicke Bäuche, große Worte, laute Stimmen. Er hat hier rumgetönt, dass er mehr Wein von irgendwo im Ausland mit Schiffen herbringen lässt als sonst wer und auch mehr verkauft als sonst wer – noch dazu günstiger als sonst wer, glaub ich. Ein Fettwanst auf hohem Ross, so einer is das.«