Adelia schloss daraus, dass Master Bloat sich einer gesellschaftlichen Stellung erfreute, in die er nicht hineingeboren worden war. »Und seine Frau?«
Statt einer Antwort verzog Gyltha den Mund zu einem völlig affektierten Lächeln, griff nach der Aleflasche und spreizte demonstrativ den kleinen Finger ab, während sie so tat, als nähme sie einen Schluck. Die Bloats hatten Gyltha missfallen.
»Als mörderisches Ehepaar aber ziemlich unwahrscheinlich«, sagte Adelia. »Wer noch?«
»Ihr zukünftiger Schwiegersohn.«
Auch er hatte einen triftigen Grund, nach Godstow zu kommen. »Aaaah.«
Der schöne, galante Gedichteschreiber war also erschienen, um seine Braut zum Altar zu führen. Wie schön für dieses fröhliche bezaubernde Mädchen, wie schön, dass die winterliche Dunkelheit zumindest für eine Weile durch Liebe erhellt werden würde.
»Wie ist er hergekommen?«
Gyltha zuckte die Achseln. »Direkt aus Oxford, kurz bevor der Schneesturm losging, genau wie die anderen. Anscheinend is er der Grundherr da drüben auf der anderen Seite von der Brücke, obwohl er nich oft da is. Runtergekommene alte Ruine is das, meint Polly.« Gyltha hatte in der Küche Freundschaften geschlossen. »Sein Pa stand im Krieg auf der Seite von Stephen und hatte flussaufwärts eine Burg, die hat dann aber König Henry abreißen lassen.«
»Sieht er wirklich so edel aus, wie Emma ihn beschreibt?«
Doch Adelia sah, dass auch er einer war, der Gyltha missfiel, aber gründlich. »Edel is, wer edel handelt«, sagte Gyltha. »Älter, als ich gedacht hätte, und er kommandiert die Leute rum wie ein richtiger Lord. War schon mal verheiratet, aber sie is gestorben. Die Bloats lecken ihm die Stiefel dafür, dass er ihr Mädchen zur Adeligen macht …«, Gyltha beugte sich leicht vor, »… und er die Güte hat, als Mitgift zweihundert Mark in Gold anzunehmen.«
»Zweihundert Mark?« Eine gewaltige Summe.
»Hat Polly gesagt. In Gold.« Gyltha nickte. »Unser Master Bloat is nich gerade knapp bei Kasse.«
»Offensichtlich. Aber immerhin, wenn er gewillt ist, das Glück seiner Tochter zu erkaufen …« Sie stockte. »Ist sie denn glücklich?«
Gyltha zuckte die Achseln. »Hab sie nich gesehen. Sie bleibt bei den Nonnen. Ich hätte ja gedacht, sie kommt angerannt, um diesen Lord Wolvercote zu begrüßen …«
»Wolvercote?«
»So heißt Seine Lordschaft. Passt auch gut, weil er wirklich richtig was von ’nem Wolf an sich hat.«
»Gyltha … Wolvercote, das ist der Mann … der hat ein Heer für die Königin aufgestellt. Er sollte in Oxford sein und da warten, bis Eleanor zu ihm stößt.«
»Tja, is er aber nich, er is hier.«
»Tatsächlich? Aber …« Adelia war fest entschlossen, an den Glanz einer romantischen Liebe zu glauben. »Er scheint mir als Mörder auch nicht wahrscheinlich. Es spricht schließlich für ihn, dass er bereit ist, einen Krieg zu verschieben, weil er es nicht abwarten kann, seine Emma zu heiraten.«
»Er verschiebt ihn«, stellte Gyltha klar, »für seine Emma plus zweihundert Mark. In Gold.« Sie beugte sich vor und gestikulierte mit ihrer Stricknadel. »Weißt du, was er als Erstes gemacht hat, als er ins Dorf kam? Er hat ein paar Spitzbuben geschnappt, die sein Gut ausgeraubt haben, und sie im Handumdrehen aufgeknüpft.«
»Die beiden an der Brücke? Ich hab mich schon gefragt, warum sie da hängen.«
»Schwester Havis is sauer. Die hat sich richtig aufgeregt, sagt Polly. Die Brücke gehört nämlich der Abtei, und die Schwestern wollen nich, dass sie mit Leichen vollgehängt wird. ›Ihr nehmt sie sofort wieder ab‹, hat sie Seiner Lordschaft gesagt. Aber der Kerl sagt, es wär seine Brücke, und er würd’s nich tun. Und er tut’s nich.«
»Oje.« So viel zum Traum von romantischer Liebe. »Und wer ist nun der vierte Ankömmling?«
»Advokat. Heißt Warin. Und der hat Fragen gestellt. Macht sich große Sorgen um seinen jungen Vetter, wie’s scheint. Der wurde zuletzt gesehen, als er flussaufwärts geritten is.«
»Warin, Warin. Er hat den Brief geschrieben, den der Junge bei sich hatte.« Es war, als würde eine Eisbarriere schmelzen, so dass alle Erinnerungen ungehindert auf sie einströmen konnten. Euer liebnd. Vetter Wlm Warin, Diener des Rechts, der Euch hiermit 2 Mark in Silber als Anzahlung auf Euer Erbe übersendet, dessen Rest Ihr beanspruchen mögt, wenn wir uns sehen.
Briefe, immer wieder Briefe. Ein Brief in der Sattelrolle. Ein Brief auf Rosamunds Tisch. Verbanden sie die beiden Morde miteinander? Nicht unbedingt. Menschen, die des Schreibens mächtig waren, schrieben nun mal Briefe. Andererseits …
»Wann ist Master Warin hier aufgetaucht und hat nach seinem Vetter gefragt?«
»Gestern am späten Abend, vor dem Schneesturm. Und er is ’ne Heulsuse. Hatte ’nen Heulkrampf vor Angst, sein Vetter könnte vom Schnee überrascht oder wegen seiner Geldbörse überfallen worden sein. Wollte über die Brücke und sich im Dorf erkundigen, aber das ging dann nich mehr, weil alles zugeschneit war.«
Adelia überlegte. »Dann war ihm aber schnell klar, dass der Junge vermisst wird. Schließlich ist Talbot aus Kidlington – er muss der im Eishaus sein – erst in der Nacht davor getötet worden.«
»Ist das ein Beweis?« In Gylthas Augen lag ein angriffslustiges Glimmen.
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nicht. Ach gütiger Gott, was ist denn nun wieder?«
In der Nähe hatte die Kirchenglocke begonnen zu läuten, ließ den Krug in seiner Schüssel erbeben und das Bett vibrieren. Allie öffnete den Mund, um zu schreien, und Adelia sprang aus dem Bett, um sie hochzuheben und ihr die Ohren zuzuhalten. »Was ist denn los? Was ist los?« Die Glocke rief nicht zum Gottesdienst.
Gyltha hatte das Ohr an den Fensterladen gedrückt und versuchte, die Rufe von unten zu verstehen. »Alle in die Kirche.«
»Brennt es?«
»Weiß nich. Klingt eher wie ein Ruf, sich zu versammeln.« Gyltha lief zu den Haken, an denen ihre Mäntel hingen. Adelia begann, Allie in ihren Pelz zu wickeln.
Draußen hasteten Menschen von allen Seiten herbei und gesellten sich zu dem lauten Gedränge vor dem Kirchenportal, wo manche stehenblieben, um andere vorzulassen, einander verstört Fragen stellten und keine Antworten erhielten. Sie nahmen den Lärm mit hinein … und verstummten.
Die Kirche war voller Menschen, aber still und größtenteils dunkel. Alles Licht bündelte sich im Altarraum, wo Männer im Chorgestühl saßen, Männer, manche von ihnen in Rüstung. Der Bischofsthron war vor den Altar gestellt worden, und Königin Eleanor saß darauf. Sie trug ihre Krone, wirkte aber zwergenhaft in dem riesigen Sessel.
Neben ihr stand ein behelmter Ritter, den Mantel zurückgeworfen, damit das rot-schwarze Wappen mit einem Wolfskopf vorn auf seinem Rock zu sehen war. Eine Hand im Panzerhandschuh ruhte auf dem Schwertheft. Er stand so reglos da, dass er auch eine bemalte Skulptur hätte sein können, doch er zog alle Blicke auf sich.
Das leise Raunen, das von den Neuankömmlingen hereingetragen wurde, erstarb. Inzwischen waren sämtliche Bewohner von Godstow eingetroffen, zumindest alle, die gehen konnten. Adelia, die allmählich fürchtete, das Kind in ihren Armen könnte zerquetscht werden, schaute sich nach einer Stelle um, wo mehr Platz war, und jemand, der schon zu einigen anderen auf ein Grabmal geklettert war, zog sie mit herauf. Gyltha und Wächter folgten ihr.
Die Glocke hörte auf zu läuten. Sie hatte lediglich den Hintergrund des Geschehens gebildet und war erst aufgefallen, als ihr Klang verstummte.