»Aber«, widersprach Adelia. »Er … äh, er kennt das Losungswort.«
Doch die Prozession – bestehend aus Doktor, Patient, Assistentin des Doktors, Hund, Söldner, zwei Nonnen mit frischen Tüchern und Strohsack – blieb unbehelligt, als sie sich von der Tür der Spitalskapelle nach links Richtung Küche bewegte.
Adelia ließ die anderen zuerst reingehen und packte Cross vorn am Wams, bevor er ihnen folgen konnte. Sie würde ihn brauchen; der Patient würde weniger Angst haben, wenn er, sein Freund, bei ihm wäre. Sie konnte Cross nicht besonders leiden – und er sie auch nicht –, aber sie vertraute darauf, dass er den Mund halten würde. »Hört zu, der Arm des Jungen muss ab …«
»Was heißt das, muss ab?«
Sie erklärte es kurz und bündig. »Das Gift wandert durch den Arm Eures Freundes, und wenn es sein Herz erreicht, wird er sterben.«
»Kann der Braunkopf denn nich ein paar Zauberworte sprechen oder so?«
»Nein, er wird den Arm amputieren … abschneiden. Oder genauer gesagt, ich werde das für ihn tun, aber …«
»Geht nich. Ihr seid ’ne Frau.«
Adelia schüttelte ihn; sie hatten keine Zeit für so was. »Habt Ihr gesehen, wie die Hände des Doktors aussehen? Die sind verbunden. Ihr werdet ihn reden und mich arbeiten sehen, aber …«
»Der sagt Euch, was Ihr zu tun habt, nich?« Cross war leicht beruhigt. »Aber was soll mein Kumpel denn eigentlich ohne seinen Scheißarm machen?«
»Was soll er ohne sein Scheißleben machen?« Adelia schüttelte den Mann erneut. »Die Sache ist die … Ihr müsst schwören, niemandem, niemandem zu erzählen, was Ihr heute Abend seht. Habt Ihr verstanden?«
Cross’ unschönes, bedrücktes Gesicht hellte sich auf. »Dann is es also doch Zauberei, was? Der Braunkopf tut irgendein Hexenwerk, und deshalb dürfen die Nonnen nich dabei zusehen.«
»Wer ist Euer Schutzheiliger?«
»St. Acacias natürlich. Hat immer gut auf mich aufgepasst.«
»Schwört bei St. Acacias, dass Ihr nichts verraten werdet.«
Cross schwor.
So spät abends war niemand mehr in der Küche. Die Nonnen bereiteten den riesigen Hauklotz mit Strohsack und sauberen Tüchern als Lager für den Patienten vor, dann verbeugten sie sich und gingen.
Die Augen des jungen Poyns traten fast aus den Höhlen, und er atmete schnell. Er hatte Fieber und große Angst. »Tut gar nich weh. Tut überhaupt nich weh.«
Adelia lächelte ihn an. »Nein, tut es nicht. Und wird es auch nicht, weil Ihr schlafen werdet.« Sie holte das Opiumfläschchen und einen sauberen Lappen aus der Tasche. Mansur legte bereits ihr Netz mit Messern in einen Topf mit brodelndem Wasser, der an einem Haken über der Feuerstelle hing; warmer Stahl schnitt besser als kalter.
Allerdings reichte das Licht in der Küche nicht aus. »Ihr da«, sagte sie zu Cross. »Zwei Kerzen. In jeder Hand eine. Haltet sie so, wie ich es Euch sage, aber passt auf, dass sie nicht tropfen.«
Cross beobachtete, wie Mansur die Messer aus dem Topf hob und sie mit seinen verbundenen Händen aus dem Netz löste. »Seid Ihr sicher, dass er was davon versteht?«
»Kerzen«, fauchte Adelia ihn an. »Helft uns oder verschwindet.«
Er half. Zumindest hielt er die Kerzen, aber als sie dem Patienten den opiumgetränkten Lappen aufs Gesicht drückte, wollte er einschreiten. »Du Hexe erstickst ihn ja.« Mansur hielt ihn zurück.
Sie hatte nur wenig Zeit, weil der Junge nicht zu lange Opium einatmen durfte. »Sein Arm muss ab. Das wisst Ihr doch schon. Vielleicht stirbt er trotzdem, aber wenn wir nicht sofort operieren, kann er nicht überleben.«
»Aber er da sagt Euch doch, was Ihr machen müsst?« Cross war inzwischen schwer von Mansur beeindruckt, seiner Kraft, seinem langen Gewand und seiner Keffiyeh. »Er is ein Zauberer, nich? Deshalb redet der auch so komisch.«
»Du musst so tun, als würdest du mir Anweisungen geben«, sagte Adelia.
Mansur begann auf Arabisch zu plappern.
Sie musste schnell arbeiten. Gott sei Dank wuchs reichlich Schlafmohn in den Sümpfen von Cambridgeshire, und sie hatte einen ordentlichen Vorrat Opium dabei, aber sie musste dessen segensreiche Wirkung gegen die Gefahren abwägen.
Die Welt schrumpfte auf die Größe einer Tischplatte.
Da er unentwegt reden musste, entschied Mansur sich für das Thema Kit b’Alf Laila wa-Laila, auch bekannt als Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. So kam es, dass die helle Stimme eines Kastraten in einer Klosterküche in Oxfordshire die arabischen Geschichten erzählte, die die Perserin Scheherazade dreihundert Jahre zuvor für ihren Mann, den Sultan, ersann, um ihre Hinrichtung hinauszuzögern. Er hatte sie früher der kleinen Adelia erzählt, und sie hatte sie geliebt. Jetzt hörte sie sie ebenso wenig wie das Knistern und Prasseln des Feuers.
Wäre Rowley aus dem eisigen Wasser errettet in die Küche getreten, Adelia hätte nicht mal aufgeblickt, oder wenn doch, so hätte sie ihn nicht erkannt. Wäre der Name ihres Kindes gefallen, sie hätte nur gefragt: »Wer?« Es gab bloß den Patienten, nein, eigentlich nicht mal ihn, nur seinen Arm. Nun die Hautlappen zurückfalten, dachte sie.
»Suturae.«
Mansur klatschte eine Nadel mit Faden in ihre ausgestreckte Hand und begann, Blut aufzutupfen.
Arterien, Venen.
Den Knochen durchsägen oder abhacken? Wie der Patient sein Leben mit einem kurzen Stumpf meistern würde, ging sie nichts an. Sie konnte nur jeweils bis zum nächsten Schritt der Operation denken.
Ein schweres Etwas plumpste in den Eimer für Küchenabfälle.
Nähen. Salbe, Gaze, Verband.
Schließlich wischte sie sich mit dem Unterarm über die Stirn. Allmählich weitete sich ihr Gesichtsfeld wieder, und sie nahm Balken und Töpfe und ein loderndes Feuer wahr.
Eine lästige Stimme drang in ihr Bewusstsein. »Was hat der Doktor gesagt? Wird er’s überleben?«
»Ich weiß nicht.«
»Das war prächtig, nich?« Cross schüttelte Mansur begeistert die Hand. »Sagt ihm, er is ein Prachtkerl.«
»Du bist ein Prachtkerl«, sagte Adelia auf Arabisch.
»Ich weiß.«
»Wie geht’s deinen Händen, mein Lieber?«, fragte sie. »Kannst du ihn zurück ins Spital tragen?«
»Ich kann.«
»Dann wickle ihn warm ein und beeil dich, ehe das Schlafmittel nachlässt. Vorsicht mit der Schulter. Sag Schwester Jennet, dass er wahrscheinlich erbrechen muss, wenn er wach wird. Ich komm gleich nach.«
»Er bleibt am Leben, nich? Jetzt kommt der Junge doch wieder in Ordnung, oder?«
Sie wandte sich der Nervensäge zu. An diesem Punkt war sie immer reizbar; es war ein Wettrennen gewesen, und wie eine Läuferin brauchte sie hinterher eine Erholungsphase, und … Cross, so hieß der Mann wohl … ließ ihr keine.
»Der Doktor weiß es nicht«, sagte sie – zum Teufel mit irgendwelchen Nettigkeiten. Schließlich war dieser Mann auf dem Boot auch nicht nett zu ihr gewesen. »Die Jugend Eures Freundes spricht für ihn, aber seine Verletzung war zu lange vergiftet und …«, sie beugte sich vor und sagte betont, »… hätte früher behandelt werden müssen. Nun geht und lasst mich in Ruhe.«
Sie sah ihm nach, wie er dem schwer schleppenden Mansur mit hängendem Kopf folgte, dann setzte sie sich ans Feuer und begann im Geist, Listen aufzustellen. An Weidenrinde bestand kein Mangel, zum Glück. Der Patient würde viel davon gegen die Schmerzen brauchen. Falls er überlebte.
Der Verwesungsgestank, der aus dem Kücheneimer drang, beunruhigte sie. Schließlich wurde hier in der Küche ihr Essen zubereitet. Eine Ratte tauchte hinter einem Schrank auf und schnupperte mit zuckenden Schnurrhaaren Richtung Eimer. Adelia griff nach dem Haufen Brennholz und warf ein Scheit nach ihr.