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Wohin mit amputierten Gliedern? In Salerno hatte sie Leute gehabt, die sie entsorgten. Adelia hatte immer den Verdacht gehegt, dass sie sie unters Schweinefutter mischten, und das war einer der Gründe gewesen, warum sie bei Schweinefleisch immer ein ungutes Gefühl hatte.

Sie hüllte sich in ihren Mantel und trug den Eimer nach draußen auf die Gasse, um eine Stelle zu suchen, wo sie den Arm entsorgen konnte. Nach der Wärme in der Küche war es draußen unerhört kalt und sehr dunkel.

Ein Stück weiter die Gasse hinunter begann jemand zu schreien. Unaufhörlich.

»Ich kann nicht«, sagte Adelia laut. »Ich kann einfach nicht.« Aber dann lief sie doch schwerfällig in die Richtung, aus der das Geschrei kam, obwohl sie hoffte, irgendjemand anderer würde vor ihr dort sein und die Dinge in die Hand nehmen.

Eine Laterne tauchte schwankend in der Dunkelheit auf, begleitet von raschen Schritten. »Wer ist da?« Es war Jacques, der Bote. »Ach, Ihr seid es, Mistress.«

»Ja. Was ist da los?«

»Ich weiß es nicht.«

Sie trabten auf das Geräusch zu, und nach und nach kamen weitere Laternen hinzu, die immer mal wieder besorgte Gesichter und Füße in Pantoffeln sehen ließen.

Vorbei am Waschhaus, vorbei an der Schmiede, vorbei am Pferdestall – alles bekannt und schrecklich, weil Adelia jetzt wusste, woher die Schreie kamen.

Die Doppeltür zum Kuhstall stand weit offen, und davor drängten sich Menschen, von denen einige versuchten, eine hysterische Melkerin zu beruhigen, die meisten starrten jedoch wie gebannt nach oben und hielten ihre Laternen so, dass das Licht auf die baumelnde Gestalt von Bertha fiel.

Sie hatte einen Riemen um den Hals, der an einem Haken im Deckenbalken befestigt war. Ihre nackten Zehen zeigten nach unten auf einen Melkschemel, der umgekippt im Stroh lag.

Die Nonnen beklagten das tote Mädchen. Was, so fragten sie, konnte nur in sie gefahren sein, dass sie Selbstmord begangen hatte, eine so überaus schlimme Sünde? Hatte sie denn nicht gewusst, dass ihr Leben Gott gehörte und dass ihre Tat daher ein gesetzloser Akt wider die göttliche Ordnung war, den die Heilige Schrift und die Kirche verboten?

Nein, dachte Adelia zornig, das hatte Bertha nicht gewusst. Weil sie das niemand gelehrt hatte.

Schuld, sagten die Schwestern. Ihre Hand hatte Rosamund die giftigen Pilze gegeben; sie war von Reue übermannt worden.

Aber sie waren gute und barmherzige Frauen, und obwohl Bertha in ungeweihter Erde außerhalb der Klostermauern bestattet werden musste, brachten sie den Leichnam bis dahin in ihre eigene Kapelle, um die Totenwache zu halten. Während sie ihn wegtrugen, sangen sie Gebete für die Tote. Die Menschenmenge vor dem Kuhstall folgte ihnen.

Im Leben hatte Bertha nie so viel Aufmerksamkeit erfahren. In einer so kleinen Gemeinschaft war der Tod immer ein Ereignis, und Selbsttötung war etwas Unerhörtes und erregte beträchtliches Aufsehen.

Während Adelia der Prozession durch die dunklen Gassen folgte, dachte sie voller Zorn, wie falsch es doch war, einem Geschöpf, dem in seinem kurzen Leben so viel versagt geblieben war, nun auch noch ein christliches Begräbnis zu versagen.

Jacques ging kopfschüttelnd neben ihr her. »Schrecklich ist das, Mistress. Das arme Kind. Hat sich bestimmt die Schuld an Lady Rosamunds Tod gegeben.«

»Nein, hat sie nicht, Jacques. Ihr wart doch dabei. Sie hat immer wieder gesagt, dass es nicht ihre Schuld war.« Da war Bertha sich ganz sicher gewesen.

»Dann hatte sie eben Todesangst vor der Haushälterin Dakers. Konnte ihr nicht gegenübertreten, schätze ich.«

Ja, sie hatte sich vor Dakers gefürchtet. Darauf würde es hinauslaufen. Entweder hatte Bertha unerträglich unter der Schuld am Tod ihrer Herrin gelitten, oder sie hatte sich aus Panik davor, was Dakers ihr antun würde, lieber selbst das Leben genommen.

»Es ist falsch«, sagte Adelia.

»Eine Sünde«, pflichtete Jacques ihr bei, »möge Gott sich dennoch ihrer Seele erbarmen.«

Aber es war falsch, alles war falsch. Das Bild, wie Bertha da am Haken hing, war falsch gewesen.

Sie näherten sich der Kapelle. Außer den Nonnen blieben alle, die den Leichnam begleitet hatten, stehen, hier durften sie nicht weiter. Selbst wenn Adelia nicht diesem Gebot unterstanden hätte, sie konnte es nicht mehr ertragen, weder Jacques und sein makabres Geplauder noch die Spekulationen der Männer und Frauen noch den Gesang der Nonnen. »Wie komme ich von hier zum Gästehaus?«

Jacques brachte sie zurück. »Eine gute Nachtruhe, Mistress. Das wird Euch jetzt guttun.«

»Ja.« Aber sie litt nicht unter der Erschöpfung, obwohl sie wahrhaftig müde war, sondern darunter, dass einfach nichts zusammenpasste. Etwas klopfte in ihrem Kopf, wollte sich Gehör verschaffen.

Der Bote leuchtete ihr die Treppe hinauf und ging dann murmelnd und kopfschüttelnd seines Weges.

Gyltha hatte in ihrem Zimmer das Geschrei gehört und aus dem Fenster gerufen, um die Ursache zu erfahren. »Schlimme Sache«, sagte sie. »Die sagen, der Kummer hat sie dazu getrieben, das arme Würmchen.«

»Oder vielleicht hatte sie einfach panische Angst, Dakers würde sie in eine Maus verwandeln und den Katzen zum Fraß vorwerfen, jaja, ich weiß.«

Gyltha blickte alarmiert von ihrer Strickerei auf. »Hoppla? Was soll das heißen?«

»Es stimmt nicht.« Adelia kraulte Wächter die Ohren und schob den Hund dann weg.

Gylthas Augen wurden schmal, aber sie sagte nichts mehr zu dem Thema. »Wie geht’s dem Flamen?«

»Ich glaub nicht, dass er überlebt.« Adelia ging zu ihrem gemeinsamen Bett und strich ihrer schlafenden Tochter übers Haar.

»Geschieht ihm recht.« Gyltha hielt nichts von Söldnern. Im Krieg zwischen Stephen und Matilda hatten viele Söldner gekämpft und sich bei der Bevölkerung verhasst gemacht. Ob sie nun aus Flandern kamen oder nicht – und die meisten kamen tatsächlich daher –, für sie stand die Bezeichnung »Flame« für Vergewaltigung, Plünderei und Grausamkeit. »Das spricht für den König«, sagte sie, »dass er die ganzen Mistkerle verscheucht hat, und jetzt bringt Eleanor sie wieder her.«

»Hmm.«

Gyltha hob die Augenbrauen. Sie hatte heiße Milch mit Rum zubereitet, der ganze Raum duftete danach, und reichte Adelia einen Becher. »Weißt du, wie spät es ist?« Sie zeigte auf die Stundenskala der Kerze neben dem Bett. »Du musst schlafen. Ist schon fast Morgen. Bald wird die Frühandacht gesungen.«

»Es ist alles falsch, Gyltha.«

Gyltha seufzte. Sie kannte das. »Das bleibt es auch bis morgen.«

»Nein, bleibt es nicht.« Adelia raffte sich auf und zog ihren Mantel an. »Ein Maß, ich brauche ein Maß. Haben wir eine Schnur oder so?«

Sie fanden eine Kordel, mit der sie ihre Reisebündel verschnürt hatten. »Und die will ich wiederhaben«, sagte Gyltha. »Is ’ne gute Kordel. Wo willst du hin?«

»Ich hab meine Medizintasche in der Küche vergessen. Die muss ich holen.«

»Du bleibst hier«, befahl Gyltha ihr barsch. »Ohne den alten Araber gehst du nirgendwohin.«

Aber Adelia war schon weg, und mit ihr Kordel und Laterne. Sie ging nicht zur Küche, sondern zur Kapelle der Nonnen. Der Morgen graute.

Sie hatten Berthas Leichnam in dem kleinen Mittelschiff auf einen Katafalk gelegt. Das Tuch, mit dem sie ihn bedeckt hatten, zog alles diffuse Licht von den hohen Fenstern auf die langgestreckte weiße Form, so dass der übrige Raum in diesigem Halbdunkel lag.

Als Adelia durch das Längsschiff schritt, störte das Rascheln ihrer Füße in den Binsen auf dem Boden die Stille, und die Nonne, die vor dem Katafalk kniete, wandte sich um.

Adelia achtete nicht auf sie. Sie stellte die Laterne auf den Boden und schlug das Tuch zurück.

Berthas Gesicht war bläulich angelaufen. Ihre Zungenspitze ragte seitlich aus dem Mund. In Verbindung mit der winzigen Nase verlieh ihr das ein fast keckes Aussehen, wie ein kleiner Kobold.