Die Nonne – Adelia kannte sie nicht – gab ein bestürztes Zischen von sich, als Adelia die Laterne aufnahm und mit der anderen Hand Berthas Lider zurückzog, um die Augen zu untersuchen.
Im Weiß waren kleine Blutflecke zu sehen. Wie nicht anders zu erwarten.
Adelia ging auf die Knie und hielt die Laterne so dicht wie möglich an den Hals. Dort waren Furchen von den Rändern des Riemens zu sehen, an dem das Mädchen gehangen hatte, aber auch andere Spuren – Rillen, die sich über die Kehle nach unten zogen.
Und knapp unterhalb der Blutergüsse, die der Riemen verursacht hatte, verlief einmal rund um den Hals eine Linie von kleinen, kreisrunden Abdrücken.
Die Nonne war aufgestanden und versuchte, Adelia von der Leiche wegzuscheuchen. »Was tut Ihr da? Ihr stört die Totenruhe.«
Adelia achtete nicht auf sie, hörte sie nicht mal. Sie deckte das Tuch wieder über Berthas Gesicht, schlug es am anderen Ende zurück und hob die Röcke des Mädchens an, um den Unterleib zu inspizieren.
Die Nonne rannte aus der Kapelle.
Die Vagina zeigte keinerlei Anzeichen von Gewalt und, soweit zu erkennen war, auch keine Samenspuren.
Adelia legte das Tuch zurück.
Verdammt. Es gab eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden. Ihr alter Lehrer Gordinus hatte sie ihr gezeigt, indem er den Hals von Gehenkten öffnete und deren Zungenbein mit dem von Garrottierten verglich – eine Form der Hinrichtung, die im Bezirk Pavia praktiziert wurde, wo man sie von den Römern übernommen hatte. »Siehst du, meine Liebe? Beim Garrottieren bricht der Knochen nur selten, doch beim Erhängen fast immer. Wenn wir also unsicher sind, ob sich jemand selbst erhängt hat oder von jemand anderem stranguliert wurde, liefert uns das einen Anhaltspunkt. Außerdem kommt es bei Selbstmord durch Erhängen so gut wie nie zu einer Einblutung in die Halsmuskulatur. Wenn wir eine solche bei dem Opfer einer angeblichen Selbsterhängung feststellen, legt das die Vermutung nahe, dass wir es mit Mord zu tun haben.«
Ach … wenn sie die Leiche doch nur sezieren dürfte … Nun denn, so musste sie sich eben auf genaues Maßnehmen verlassen …
»Was geht hier vor?« Die tiefe Stimme dröhnte durch die Kapelle, vertrieb die Stille, schien selbst die Staubflöckchen aufzuschrecken und deutlicher hervortreten zu lassen.
Die Nonne war ganz aufgeregt. »Seht Ihr sie, Mylord. Diese Frau …«
»Ich sehe sie.« Er herrschte Adelia an, die die Kordel von Berthas Schädeldecke bis zu ihren nackten Zehen angelegt hatte. »Seid Ihr von Sinnen? Warum entehrt Ihr die Tote, Mistress? Selbst eine wie diese?«
»Hmm.« Adelia machte einen Knoten in die Kordel, wickelte sie sich um die Hand und ging geistesabwesend Richtung Tür.
Der Abt, der in Breite und Höhe und Farbe unübersehbar war, stellte sich ihr in den Weg. »Mistress, ich habe gefragt, warum Ihr den Frieden der armen Seele stört, die hier ruht?« Alles Bäuerliche war verschwunden, jetzt war der Mann ausschließlich ein gelehrter Vertreter des kirchlichen Standes.
Adelia schob sich an ihm vorbei. Der Riemen, dachte sie, vielleicht ist der ja noch im Kuhstall. Und meine Kette auch.
Der Abt sah ihr nach und schickte die Nonne dann mit einer heftigen Armbewegung zurück zu ihrer Totenwache.
Draußen kam der gewohnte Klosteralltag allmählich in Gang, und das trotz eines Selbstmordes, der Anwesenheit einer Königin, der Besatzung durch ihre Söldner und der grässlichen Kälte. Godstows Bewohner schlitterten auf schmutzigem, buckeligem Eis hastig dahin, um ihre Feuer neu zu entfachen und mit ihrer Arbeit zu beginnen.
Jacques holte Adelia ein, als sie gerade am Pferdestall vorbeiging. »Ich hab auf Euch gewartet, Mistress. Was soll denn hiermit geschehen?« Er trug einen Eimer und schwenkte ihn so vor ihr, dass sie stehenbleiben musste. Darin lag ein Arm. Adelia starrte einen Moment lang darauf, bis ihr wieder einfiel, dass sie ja vor einer halben Ewigkeit, so kam es ihr zumindest vor, eine Amputation vorgenommen hatte.
»Ich weiß nicht. Vergrabt ihn irgendwo, würde ich sagen.« Sie eilte weiter.
»Vergraben«, sagte Jacques und schaute ihr nach. »Wie denn bei dem knochenharten Boden?«
Der Kuhstall bei Tageslicht. Warm, trotz der offenen Tür. Die Sonne auf dem verdreckten Boden, ruhig bis auf das gleichmäßige Zischen aus einem der Verschläge, wo eine junge Frau beim Melken war. Sie saß auf dem Hocker, der umgekippt unter Berthas baumelndem Leichnam gelegen hatte.
Ihr Name sei Peg, sagte sie, und sie war es auch gewesen, die, als sie früh am Morgen zum Melken in den Stall gekommen war, Bertha entdeckt hatte. Der Anblick hatte bei ihr einen Schreikrampf ausgelöst, und sie war zurück nach Hause gerannt, wo sie von ihrer Mutter einen Schluck beruhigenden Kräuterschnaps bekommen hatte, ehe sie sich dazu aufraffen konnte, wieder herzukommen und mit der Arbeit anzufangen.
»Deshalb bin ich heute so spät dran, die armen Viecher haben nach mir gemuht, dass ich komm und ihnen Erleichterung verschaffen tu, aber ich war fix und fertig. Hab die Tür aufgemacht, und da hing sie da. Da komm ich nie drüber weg, nie. Der alte Stall hier is nich mehr derselbe für mich, wird er nie wieder sein.«
Adelia wusste, wie sich das anfühlte. Der tröstliche Geruch von Tierblähungen und Stroh, die unschuldige Geborgenheit des Raumes war geschändet worden. Ein alter Balken, von dem ein Körper gehangen hatte, war jetzt ein Galgen. Auch sie würde nie darüber hinwegkommen. Bertha war hier gestorben, und von all den Todesfällen war Berthas der, welcher am lautesten zum Himmel schrie.
»Kann ich was für Euch tun, Mistress?«, erkundigte sich Peg, während sie weitermelkte.
»Ich such nach einem Halskettchen mit einem Kreuz dran. Ich hab es Bertha geschenkt. Sie trägt es nicht, und ich würde es ihr gern mit ins Grab geben.«
Pegs Kappe verrutschte, als sie den Kopf schüttelte, ohne dabei Kontakt mit der Kuhflanke zu verlieren. »Nie gesehen.«
Adelia führte sich die Szene von vor einer Stunde wieder vor Augen. Ein Mann, sie glaubte, es war Fitchet, der Torwächter, war zu dem Schemel unter Berthas Füßen gestürzt und hatte ihn aufgerichtet, dann war er daraufgestiegen und hatte den Leichnam angehoben, damit der Riemen, an dem sie hing, von dem Haken am Balken rutschte.
Was dann? Richtig, richtig, andere Männer hatten ihm geholfen, den Körper auf den Boden zu legen. Irgendwer hatte ihr den Riemen vom Hals genommen und beiseitegeworfen. Bei dem Gedränge von Menschen, die dann vergeblich versuchten, das tote Mädchen wiederzubeleben, hatte Adelia nicht sehen können, ob Bertha die Kette mit dem Kreuz um den Hals gehabt hatte. Falls ja, hätte der Riemen, an dem sie gehangen hatte, die Kette bedecken und sie fest in die Haut des Mädchens drücken müssen, so dass die Kettenglieder kreisrunde Abdrücke hinterlassen hätten.
Aber wenn sie sie nicht getragen hatte …
Adelia machte sich auf die Suche.
Den Riemen entdeckte sie in einer Ecke voller Spinnweben. Es war eine Art Gürtel. Ein ausgeleiertes Loch verriet, an welcher Stelle der Benutzer ihn immer verschlossen hatte, doch am äußeren Ende des Leders war ein weiteres Loch stark geweitet, das über den Haken im Deckenbalken gestülpt worden war, um das Gewicht von Berthas Körper zu tragen.
»Wo hat sie wohl einen Gürtel hergehabt?«, fragte sich Adelia laut und warf ihn sich über die Schulter.
»Weiß nich, die hatte nie ’nen Gürtel«, sagte Peg.
Genau … sie hatte keinen. Adelia ging langsam ans hintere Ende des Stalls, trat kleine Heubüschel beiseite, um nachzuschauen, ob sich darunter etwas verbarg.
Hinter ihr zischte weiter regelmäßig Milch in den Eimer, und Peg sagte nachdenklich: »Die Arme, ich kann mir gar nich vorstellen, was in sie gefahren is. Klar war sie ein bisschen bekloppt, aber trotzdem …«
»Hat sie dir irgendwas gesagt?«