Adelia blieb stehen.
Die Priorin hielt ihr schmales Gesicht weiterhin abgewandt. »Ich reise«, sagte sie. »Mir obliegt es, unsere Ländereien überall im Reich zu verwalten, und so sehe ich mehr von dem Misthaufen der Menschheit als meine Schwestern, ich sehe die Frevel und das Irren der Menschen, ich sehe ihre Missachtung der Höllenflammen, die ihrer harren.«
Adelia blieb ruhig. Das war keine Predigt über die Sünde; Schwester Havis hatte ihr etwas zu sagen.
»Und doch«, fuhr die Priorin fort, »gibt es ein noch größeres Böses. Ich war an Rosamunds Sterbebett, ich war Zeugin ihres furchtbaren Endes. Auch wenn die Frau eine Ehebrecherin war, so hätte sie nicht sterben dürfen.«
Adelia wartete weiter.
»Unser Bischof hatte sie kurz zuvor besucht, er hat die Mägde befragt und brach dann wieder auf. Zu dem Zeitpunkt ging es Rosamund noch gut, aber nach dem, was er in Erfahrung gebracht hatte, glaubte er, dass jemand absichtlich versucht hatte, sie zu vergiften, was letzten Endes ja auch gelungen ist, wie Ihr ebenso gut wisst wie ich.« Plötzlich wandte die Priorin den Kopf und blickte Adelia durchdringend an. »Hat er Euch das gesagt?«
»Ja«, sagte Adelia, »und deshalb hat er uns hierher mitgenommen. Er wusste, dass man der Königin die Schuld geben würde, er wollte den wahren Mörder entlarven und einen Krieg abwenden.«
»Dann hatte er eine hohe Meinung von Euch, Mistress.« Es klang höhnisch.
»Ja, das hatte er«, zischte Adelia sie an. Ihre Füße waren gefühllos vom langen Stehen, und ihre Trauer um Rowley drohte, sie zu übermannen. »Sagt endlich, was Ihr mir sagen wollt, oder lasst mich gehen. In Gottes Namen, reden wir über Rosamund oder Bertha oder den Bischof?«
Die Priorin blinzelte. Mit Zorn hatte sie nicht gerechnet.
»Bertha«, sagte sie ein wenig versöhnlicher. »Wir reden über Bertha. Ihr solltet wissen, dass ich Dakers gestern in Gewahrsam genommen habe. Die Frau ist geistesgestört, und ich wollte nicht, dass sie in der Abtei umherstreift. Daher hab ich sie vor der Vesper über Nacht im Wärmeraum eingeschlossen.«
Adelias Kopf schnellte hoch. »Um welche Zeit wird abends gemolken?«
»Nach der Vesper.«
Sie gingen jetzt im Gleichschritt. »Da lebte Bertha noch«, sagte Adelia. »Die Melkerin hat sie gesehen.«
»Ja, ich habe mit Peg gesprochen.«
»Ich wusste, dass Dakers es nicht war.«
Die Priorin nickte. »Dafür müsste die unglückliche Frau schon durch eine dicke, verriegelte Tür gehen können. Was ihr, wenn ich das so sagen darf, die meisten meiner Schwestern durchaus zutrauen.«
»Ihr dürft, Ihr dürft.« Adelia blieb erbost stehen. »Warum habt Ihr das nicht vorhin im Kapitelsaal gesagt?«
Die Priorin trat vor sie. »Ihr wart damit beschäftigt, uns zu beweisen, dass Bertha ermordet worden war. Ich wusste zufällig, dass Dakers sie nicht getötet haben konnte. Daraus ergab sich die Frage: Wer dann? Und warum? Diesen Wolf wollte ich nicht zwischen Schwestern freilassen, die ohnehin schon bekümmert und verängstigt genug sind.«
Ah. Endlich, dachte Adelia, ein logischer Verstand. Mir gegenüber abweisend und kalt wie der Winter, aber mutig. Vor ihr stand eine Frau, die gewillt war, schrecklichen Ereignissen auf den schrecklichen Grund zu gehen.
Sie sagte: »Bertha wusste etwas über die Person, die ihr im Wald die Pilze geschenkt hat. Aber es war ihr nicht bewusst. Ich denke, gestern ist es ihr wieder eingefallen, ich denke, sie ist aus dem Kuhstall gelaufen, um es mir zu erzählen. Irgendetwas oder vielleicht auch irgendjemand hat sie aufgehalten, und sie ist wieder zurück in den Stall gegangen. Wo sie erdrosselt und dann aufgehängt wurde.«
»Sie war kein zufälliges Opfer?«
»Ich glaube nicht. Es gab keine sexuellen Handlungen, soweit ich das feststellen konnte. Und sie wurde nicht ausgeraubt, die Goldkette war noch da.«
Beide hatten unbewusst begonnen, vor der Kapelle auf und ab zu gehen. Adelia sagte: »Sie hat Peg erzählt, dass es keine Sie war, sondern ein Er.«
»Die Person im Wald?«
»Ich denke, ja. Ich glaube, Bertha hat sich an irgendetwas erinnert, irgendetwas an der alten Frau, die ihr die Pilze für Rosamund geschenkt hat. Ich denke, ihr ist klar geworden, dass es gar keine alte Frau war – ihre Beschreibung hat sich immer irgendwie … ich weiß nicht, sonderbar angehört.«
»Alte Frauen, die im Wald vergiftete Pilze verschenken, sind ja auch wohl sonderbar.«
Adelia lächelte. »Dann eben übertrieben. Geschauspielert. Ich denke, das wollte Bertha mir sagen. Keine Sie, sondern ein Er.«
»Ein Mann? Als Frau verkleidet?«
»Ich denke, ja.«
Die Priorin bekreuzigte sich. »Woraus zu schließen ist, dass Bertha uns hätte sagen können, wer Rosamund getötet hat …«
»Ja.«
»… aber nicht mehr dazu kam, weil sie erdrosselt wurde, von derselben Person.«
»Ich denke, ja.«
»Das habe ich befürchtet. Der Teufel wandelt unter uns.«
»In Menschengestalt, ja.«
»Ich soll mich nicht fürchten«, sagte Schwester Havis, »ich soll mich nicht fürchten, vor dem Pfeil, der des Tages fliegt, vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die am Mittag Verderben bringt.« Sie schaute Adelia an. »Und doch empfinde ich Furcht.«
»Ich auch.«
Seltsamerweise jedoch nicht mehr ganz so sehr wie zuvor. Es tröstete Adelia ein wenig, ihr Wissen an die Obrigkeit weitergegeben zu haben, und obwohl ihr die Frau ablehnend begegnete, war sie doch praktisch die einzige Obrigkeit, die das Kloster zu bieten hatte.
Nach einer Weile sagte Schwester Havis: »Wir mussten den Toten von der Brücke aus dem Eishaus holen. Ein Mann hat nach ihm gefragt, ein Vetter, wie er sagte – Master Warin, ein Advokat aus Oxford. Wir haben den Leichnam für die Totenwache in der Kirche aufgebahrt, und damit er ihn identifizieren konnte. Anscheinend handelt es sich um einen jungen Mann namens Talbot aus Kidlington. Ist er auch ein Opfer dieses Teufels geworden?«
»Ich weiß es nicht.« Sie merkte, dass sie die ganze Zeit »ich« gesagt hatte. »Ich werde Master Mansur berichten. Er wird der Frage nachgehen.«
Ein leiser Hauch von Erheiterung huschte über das Gesicht der Priorin. Sie wusste, wer hier ermittelte. »Bitte tut das«, sagte sie.
Aus dem Kreuzgang weiter vorne tönte Lachen und Gesang herüber, und Adelia merkte, dass sie das schon seit einer Weile hörte. Es gab also doch noch irgendwo Musik und Frohsinn.
Im Innenhof kreischten zwei junge Nonnen vor Vergnügen, während sie Schneebällen auswichen, die ein scharlachrot gekleideter junger Mann nach ihnen warf. Ein anderer junger Mann zupfte eine Gambe und sang, den Blick auf eines der oberen Fenster im Haus der Äbtissin gerichtet, wo Eleanor stand und über die ausgelassene Szene lachte.
Und das im Heiligtum. Das kein nichtgeistlicher Mann je betreten sollte, und vermutlich bis jetzt nie betreten hatte.
Aus Eleanors Fenster drang ein schwacher Parfümhauch, flüchtig wie eine Fata Morgana, schillernd vor Sinnlichkeit, ein Sirenenduft, der zu palmengesäumten Eilanden lockte, so betörend, dass Adelias Nase, noch während sie ihn analysierte – Bergamotte, Sandelholz, Rosen –, zugleich seiner Üppigkeit sehnsüchtig nachschnupperte, bis die eisige Luft ihn davontrug.
O Gott, ich hab den Tod und die Kälte so satt.