»Sie werden sie begraben«, sagte Adelia. »Oje.«
Jacques, der in ihrer Nähe stand, grinste. »Das macht man mit Toten gemeinhin so«, sagte er.
»Ja, aber ich habe mir ihre Schuhe nicht angesehen. Und du«, sagte sie zu Gyltha, »bringst jetzt das Kind nach Hause.« Sie hastete den Nonnen nach und stoppte den Karren, indem sie sich einfach davorstellte. »Dürfte ich mal kurz? Geht ganz schnell.«
Sie kniete sich in den Schnee, so dass ihre Augen auf einer Höhe mit den Beinen der Toten waren, und hob das Sackleinen an.
Sie fühlte sich zurück auf die Brücke versetzt, als sie sie zum ersten Mal sah, nachts, mit der schrecklichen Last, die sie trug, und den Fußspuren im Schnee, die ihr den Ablauf des Mordes so deutlich geschildert hatten, als hätten die beiden Täter ihn selbst gestanden.
Sie hörte ihre eigene Stimme, die mit Rowley sprach: »Seht Ihr? Der eine trägt genagelte Stiefel, der andere hat Querstreifen an den Sohlen, vielleicht mit Riemen umwickelte Holzschuhe. Sie waren beritten und haben ihre Pferde zwischen die Bäume dort geführt … Während sie warteten, haben sie gegessen …«
Jetzt sah sie ein Paar robuster genagelter Stiefel vor sich. Der andere Tote hatte den rechten Schuh verloren, doch der linke Holzschuh war von fest gebundenen Lederriemen am Fuß gehalten worden, die unter der Sohle verliefen und kreuzförmig bis hinauf zur Wade gewickelt waren.
Sorgsam legte sie das Sackleinen wieder zurück und richtete sich auf. »Danke.«
Verblüfft zogen die Nonnen mit dem Karren weiter. Schwester Havis sah Adelia kurz in die Augen. »Waren sie es?«
»Ja.«
Walt hörte das. »He, sind das die Schweine, die das arme Pferd umgebracht haben?«
Adelia lächelte ihn an. »Und den Reisenden. Ja, ich glaube schon.« Sie drehte sich um und bemerkte, dass Wolvercote näher gekommen war, um zu sehen, was sie da machte. Die vielen Leute aus der Abtei blieben in der Nähe, um das Gespräch mitzubekommen.
»Wisst Ihr, wo die beiden herkamen?«, fragte sie ihn.
»Ist mir doch egal, wo die herkamen! Ich hab sie erwischt, wie sie mein Haus ausrauben wollten. Die hatten einen Silberbecher, meinen Silberbecher, und mehr muss ich nicht wissen.« Er sah den Torwächter an. »Wer ist das Weib, was macht die hier?«
»Ist mit dem Bischof gekommen«, antwortete Fitchet knapp.
Walt meldete sich stolz zu Wort: »Sie gehört zu dem Sarazenenarzt. Sie kann Sachen erkennen, jawohl. Sie sieht Sachen und weiß genau, was passiert ist.«
Das war unglücklich formuliert. Adelia senkte den Kopf, während sie auf das Unvermeidliche wartete.
Wolvercote musterte sie. »Also eine Hexe«, sagte er.
Das Wort tropfte in die Luft wie Tinte in klares Wasser, verfärbte sie, durchzog sie mit schwarzen, schlängelnden Spuren, ehe es sie für alle Zeit grau werden ließ.
So wie die Anspielung, dass Havis eine frustrierte Jungfrau sei, an ihr haftenbleiben würde, so würden die Umstehenden, die das Wort »Hexe« in Bezug auf Adelia hörten, es nie mehr vergessen. Das Wort hatte Frauen gesteinigt und verbrannt, man konnte keinen Widerspruch dagegen einlegen. Es bewölkte die Gesichter der Männer und Frauen, die zuhörten. Selbst bei Jacques und Walt waren neue Zweifel spürbar.
Sie geißelte sich selbst. Herrje, wie dumm. Wieso hab ich nicht gewartet? Sie hätte eine andere Gelegenheit finden können, um sich die Schuhe der Männer anzusehen, ehe sie beerdigt wurden. Aber nein, sie musste es ja gleich hier tun. Unbedacht, unbedacht.
»Verdammt«, sagte sie. »Verdammt.« Sie sah sich um. Lord Wolvercote war gegangen, doch alle anderen starrten sie an. Sie hörte das Gemurmel. Das Malheur war geschehen.
Jacques trottete schnaufend auf sie zu. »Ich glaub nicht, dass Ihr eine Hexe seid, Mistress. Bleibt einfach nur in Eurem Zimmer, ja? Aus den Augen, aus dem Sinn. Wie der heilige Matthäus sagt: ›Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.‹«
Aber der Tag war noch nicht vorüber. Als sie durch das Klostertor gingen, stürzte ihnen ein dicker Mann mit weit aufgerissenen Augen aus dem Kirchenportal entgegen. Er deutete auf Jacques. »Du da«, schrie er, »hol die Infirmarin.«
Der Bote rannte los. Der Dicke drehte sich um und stürmte zurück in die Kirche.
Adelia zögerte draußen. Es ist genug … Der Plagen hatte es heute wahrlich genug gegeben, und einige davon hatte sie selbst heraufbeschworen. Was auch immer da los ist, es geht dich nichts an.
Doch die Geräusche, die aus der Kirche drangen, klangen gequält.
Sie ging hinein.
Es drang nicht viel Sonne in das große Mittelschiff, in dem tagsüber keine Kerzen brannten. Aus den hohen, schmalen Fenstern im Obergaden fielen eisige Lichtstrahlen ins dunkle Innere, beschienen hier und dort eine Säule und durchschnitten den hohen Raum in dünnen Streifen, ohne die Mitte zu erhellen, wo die Klagelaute herkamen.
Bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte Adelia nicht erkennen, was vor sich ging. Langsam nahm die Szene Gestalt an: Da war ein Katafalk, und zwei stämmige Gestalten, ein Mann und eine Frau, zerrten an etwas, das darauf lag.
Dieses Etwas war – wie sie jetzt sehen konnte – die junge Emma. Sie lag ganz still da, doch ihre Hände umklammerten die hintere Kante des Katafalks, damit ihr Körper nicht von dem Körper weggezogen werden konnte, der unter ihr ruhte.
»Lass ihn, Mädchen. Komm jetzt weg da. Das is peinlich. Du liebe Güte, was hat sie nur?« Die Stimme des dicken Mannes.
Die Frau war sanfter, aber nicht weniger entrüstet. »Na, na, mein Engelchen, reiß dich zusammen, du regst deinen Pa auf. Der Tote kann dir doch egal sein. Nun steh doch auf.«
Der Dicke sah sich ratlos um und erblickte Adelia, die in der Tür stand, die Sonne im Rücken. »He, Ihr da, kommt her und fasst mit an. Ich glaub, unsere Tochter is ohnmächtig geworden.«
Adelia trat näher. Emma war nicht ohnmächtig, ihre Augen waren weit geöffnet und stierten ins Leere. Sie hatte sich quer über den Leichnam geworfen und umklammerte den Katafalk darunter so fest, dass ihre Fingerknöchel sich wie weiße Kieselsteine gegen das dunkle Holz abhoben.
Als Adelia ganz nah war, blickte sie nach unten.
Die Nonnen hatten Münzen auf die Augen gelegt, doch das Gesicht war das Gesicht des toten jungen Mannes auf der Brücke, den sie und Rowley ins Eishaus gebracht hatten. Es war Master Talbot aus Kidlington. Gerade eben hatte sie die Schuhe seiner Mörder untersucht.
Ihr wurde bewusst, dass der dicke Mann laut schimpfte, wenn auch nicht auf sie. »Schönes Kloster is das, wo sie einfach so tote Leute rumliegen lassen. Hat unsere Tochter ganz schön erschreckt, und ich kann’s verstehen. Bezahlen wir dafür etwa unseren Zehnten?«
Inzwischen hatte die Infirmarin mit Jacques die Kirche betreten. Schreie und Ermahnungen vermischten sich zu einem unverständlichen Lärm, der ein einziges Echo hatte, nämlich Schwester Jennets resolute Stimme – »Na, na, Kind, so geht das nicht« –, durchsetzt mit dem Gezeter des Vaters, der sich zunehmend aufregte und einen Schuldigen suchte, während die ängstliche Sorge der Mutter zu beiden einen leiseren Gegenpol bildete.
Adelia berührte sanft Emmas verkrampfte Hände. Das Mädchen hob den Kopf, doch Adelia hätte nicht sagen können, was die gequälten Augen sahen. »Seht Ihr, was sie getan haben? Was sie ihm angetan haben, ihm?«
Der Vater und Schwester Jennet standen jetzt ein Stück entfernt und stritten sich unverhohlen. Die Mutter hatte es aufgegeben, sich um ihre Tochter zu kümmern, und war zu den beiden gegangen.
»Beherrscht Euch, Master Bloat. Wo sonst hätten wir denn einen Leichnam aufbahren sollen, wenn nicht in der Kirche?« Schwester Jennet fügte nicht hinzu, dass ihnen in Godstow allmählich der Platz für die Toten ausging.
»Aber nicht da, wo man praktisch drüberfallen kann, dafür bezahlen wir unseren Zehnten nicht.«