»Ganz recht, Vater, ganz recht …« Das war Mistress Bloat. »Wir haben uns gerade alles zeigen lassen, nich? Unsere Tochter hat uns herumgeführt.«
Emmas Augen starrten noch immer in Adelias, als blickten sie in den Höllenschlund. »Versteht Ihr, o Gott, versteht Ihr?«
»Ich verstehe«, sagte Adelia zu ihr.
Sie verstand wirklich und fragte sich, wie sie so blind gewesen sein konnte, es nicht schon viel früher verstanden zu haben. Deshalb also war Talbot aus Kidlington ermordet worden.
Kapitel zehn
Wohin wolltet Ihr denn fliehen?«
»Wales.«
Das Mädchen saß auf einem Hocker in der Ecke von Adelias und Gylthas Zimmer. Sie hatte sich den Schleier vom Kopf gerissen, und ihr langes, weißblondes Haar fiel ihr übers Gesicht, während sie vor und zurück schwankte. Allie, die von den Äußerungsformen einer solchen Trauer ganz verstört war, hatte angefangen zu brüllen und wurde jetzt zur Beruhigung wieder in den Armen ihrer Mutter gewiegt. Wächter, der gleichfalls ein unerwartetes Mitgefühl zeigte, hatte den Kopf auf Emmas Stiefel gelegt.
Sie hatte im wahrsten Sinne des Wortes darum gekämpft, herkommen zu können. Nachdem sie endlich von dem Leichnam weggezogen worden war, hatte sie die Arme nach Adelia ausgestreckt. »Ich geh mit ihr, mit ihr. Sie versteht, sie weiß.«
»Auf jeden Fall mehr als ich«, hatte Master Bloat gesagt, und Adelia hätte fast Mitleid mit ihm haben können, doch dann hatte er versucht, seine Tochter wegzuschleppen, und ihr dabei eine Hand auf den Mund gelegt, damit ihre Schreie nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregten, als sie es ohnehin schon getan hatten. Emma war ihm ebenbürtig gewesen, hatte sich gewunden und kreischend gewehrt.
Schließlich hatte Schwester Jennet zur Nachsicht geraten. »Lasst sie vorläufig mit dieser Lady hier gehen. Sie hat einige medizinische Kenntnisse und kann sie vielleicht beruhigen.«
Es blieb ihnen nichts anderes übrig, aber die Blicke, die Master und Mistress Bloat ihr zuwarfen, als sie ihrer Tochter zum Gästehaus half, verrieten Adelia, dass sie ihrer immer länger werdenden Liste von Feinden zwei weitere hinzufügen konnte.
Sie konnte das Mädchen überreden, eine Tasse Frauenschuhaufguss zu trinken, der sie so weit beruhigte, dass sie Fragen beantwortete, obwohl Gyltha, die Emma den Nacken sanft mit Rosenöl einrieb, jedes Mal die Stirn runzelte, wenn Adelia eine neue Frage stellte.
Um Himmels willen, lass das arme Ding doch in Ruhe.
Ich kann nicht.
Ihr bricht das Herz.
Es wird wieder heilen. Talbots nicht.
Gyltha mochte ja auf der Seite der Trauernden sein, doch Adelia sah sich zuerst Talbot aus Kidlington verpflichtet, der Emma Bloat geliebt hatte und durch den Schnee zum Kloster geritten war, um sie abzuholen und zu heiraten. Ein Plan, dessen Umsetzung eine so große finanzielle Katastrophe für einen Dritten dargestellt hätte – Adelia dachte dabei an Lord Wolvercote –, dass er seine Ermordung angeordnet hatte.
Master Nagelschuh und Master Holzschuh hatten nicht in einer kalten Schneenacht an einer einsamen Brücke auf irgendeinen beliebigen Reisenden gelauert. Sie waren zweifellos gemeine Verbrecher, aber sie waren nicht völlig hirnlos. Sie wussten, weil es ihnen jemand erzählt hatte, dass zu einer bestimmten Stunde ein bestimmter Mann zum Klostertor reiten würde … Tötet ihn.
Sie hatten ihn getötet, und dann waren sie über die Brücke ins Dorf geflohen – um selbst getötet zu werden.
Von demselben Mann, der ihnen zuvor den Mordauftrag erteilt hatte?
O ja, Wolvercote war das zuzutrauen.
Aber vielleicht doch nicht ganz. Adelia rätselte noch immer, warum jemand unbedingt gewollt hatte, dass Talbots Leiche identifiziert wurde. Sie vermutete, falls Wolvercote doch dahintersteckte, wollte er, dass Emma so bald wie möglich vom Tod ihres Geliebten erfuhr, damit sie wusste, dass ihre Hand – und ihr Vermögen – wieder ihm gehörte.
Ja, aber das wäre auch passiert, wenn Talbot nicht wieder aufgetaucht wäre. Warum musste ihr die Leiche sofort gleichsam vor die Nase gelegt werden? Und warum unter Umständen, die den Verdacht so offenkundig auf Wolvercote lenkten?
Seht Ihr, was sie getan haben?
Wen meinte Emma mit »sie«?
Adelia setzte Allie auf den Boden, gab ihr den Beißring, den Mansur aus Knochen für das Kind geschnitzt hatte, und setzte sich neben Emma. Sie strich ihr das lange Haar zurück und formte über ihren Kopf hinweg lautlos mit den Lippen »Ich muss einfach« in Gylthas Richtung.
Das Mädchen war fast apathisch vor Schock. »Lasst mich hier bei Euch bleiben.« Das sagte sie wieder und wieder. »Ich will sie nicht sehen, keinen von ihnen. Ich kann nicht. Ihr habt einen Mann geliebt, Ihr habt sein Kind. Ihr versteht mich. Die nicht.«
»Klar kannst du bleiben«, beruhigte Gyltha sie.
»Mein Geliebter ist tot.«
Der meine auch, dachte Adelia. Die Trauer des Mädchens war ihre eigene. Sie zwang sie nieder. Ein Mord war geschehen, und der Tod war ihr Metier. »Ihr wolltet nach Wales?«, fragte sie. »Im Winter?«
»Wir mussten doch warten. Bis er einundzwanzig war. Um sein Erbe zu bekommen.« Sie sprach abgehackt mit geistesabwesender Teilnahmslosigkeit.
An Talbot aus Kidlington, mögen der Herr und seine Engel Euch an diesem Tage segnen, an dem Ihr in das Mannesalter eintretet.
Und an diesem Tag war Talbot aus Kidlington aufgebrochen, um Emma Bloat zu entführen, mit, wenn Adelia sich recht erinnerte, den zwei Mark in Silber, die Master Warins Brief beilagen.
»Sein Erbe waren zwei Mark in Silber?« Dann fiel ihr ein, dass Emma nichts von dem Geld wusste, da sie ja auch nichts von dem Brief wusste.
Das Mädchen nahm ihren Einwurf kaum wahr. »Das Land in Wales. Seine Mutter hat es ihm hinterlassen, Felin Fach …« Sie gab dem Namen einen weichen Klang, als hätte sie ihn oft ausgesprochen, eine Liebesgabe aus dem Mund ihres Geliebten. »›Felin Fach‹, hat er oft gesagt, ›das Tal des Aeron, wo die Lachse an die Angel springen und die Erde selbst Gold gebiert.‹«
»Gold?« Adelia sah Gyltha fragend an. »Gibt es Gold in Wales?«
Gyltha zuckte die Achseln.
»Es sollte ihm gehören, sobald er ins mündige Alter kam. Es war Teil seiner Erbschaft, versteht Ihr. Dort wollten wir hin. Pfarrer Gwilym wartete auf uns, um uns zu trauen. ›Ulkiger kleiner Mann, spricht kein Wort Englisch …‹« Sie zitierte erneut und lächelte fast dabei. »›… aber auf Walisisch kann er ein ebenso festes Eheband knüpfen wie jeder Priester im Vatikan.‹«
Es war unendlich traurig. Gyltha wischte sich über die Augen. Und auch Adelia empfand tiefes, tiefes Mitgefühl. Einen solchen Schmerz zu sehen war so, wie ihn selbst zu erleiden, aber sie musste ihre Antworten bekommen.
»Emma, wer wusste, dass ihr fliehen wolltet?«
»Niemand.« Jetzt lächelte sie tatsächlich. »›Kein Umhang, sonst merken sie was. Ich bringe einen für dich mit. Fitchet macht das Tor auf …‹«
»Fitchet?«
»Ja, natürlich wusste Fitchet über uns Bescheid. Talbot hat ihm Geld gegeben.«
Offenbar war der Torwärter in Emmas Wahrnehmung ein Niemand.
Das Gesicht des Mädchens verzog sich. »Aber er ist nicht gekommen. Ich hab im Torhaus gewartet … Ich hab gewartet … Ich dachte … Ich dachte … O Jesus Christus, erbarme dich, ich war böse auf ihn …« Sie begann, mit den Händen durch die Luft zu fahren. »Warum haben sie ihn getötet? Hätten sie ihm nicht einfach die Börse abnehmen können? Warum ihn töten?«
Wieder trafen sich Adelias und Gylthas Blicke. Gut so. Emma glaubte, ihr Geliebter wäre von Räubern getötet worden, und im Augenblick war es vermutlich am besten, sie in dem Glauben zu lassen. Es war sinnlos, sie gegen Wolvercote aufzubringen, ehe seine Schuld bewiesen war. Vielleicht war er ja sogar unschuldig. Falls er nichts von den Fluchtplänen gewusst hatte … Aber Fitchet war eingeweiht gewesen.