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Mutter Edyve war so klein, dass sie kaum das Gestühl überragte, in dem sie saß, die Hände über ihrem Gehstock gefaltet, das Kinn auf die Hände gelegt.

Adelia stand auf. Sie sagte: »Ich störe Euch, Mutter. Ich werde gehen.«

Die Stimme erreichte ihr Ohr, als sie sich zur Tür wandte. »Emma war neun Jahre alt, als sie nach Godstow kam und uns allen Freude brachte.«

Adelia drehte sich um. »Jetzt ist es mit der Freude vorbei, für sie und für Euch«, sagte sie.

Unvermittelt fragte Mutter Edyve: »Wie hat Königin Eleanor die Nachricht aufgenommen?«

»Mit Wut.« Weil sie selbst ihre eigene Wut kaum bändigen konnte, sagte Adelia: »Ich vermute, sie ist erbost, weil Wolvercote ihren Befehl missachtet hat.«

»Ja.« Mutter Edyve rieb mit dem Kinn über die gefalteten Hände. »Ihr seid ungerecht, denke ich.«

»Eleanor gegenüber? Was kann sie denn tun außer zetern? Was kann irgendwer tun? Euer fröhliches Kind ist für den Rest seines Lebens zur Sklavin eines Schweins gemacht worden, und sogar der Königin von England sind die Hände gebunden.«

»Ich habe mir die Lieder angehört, die sie ihr singen, der Königin«, sagte Mutter Edyve. »Die Gambe und die Stimmen der jungen Männer – ich habe hier gesessen und darüber nachgedacht.«

Adelia hob die Augenbrauen.

»Wovon singen sie da?«, fragte Mutter Edyve. »Cortez amors?«

»Höfische Liebe. Ein provenzalischer Ausdruck. Provenzalisches Gesäusel und sentimentaler Blödsinn.«

»Höfische Liebe, ja. Eine Serenade für die unerreichbare Dame. Höchst interessant – irdische Liebe, die adelt. Man könnte fast sagen, das, wonach sich diese jungen Männer sehnen, ist die gedankliche Essenz der Jungfrau Maria, nicht wahr?«

Törichte alte Seele, dachte Adelia, bebend vor Zorn. »Wonach sich diese jungen Männer sehnen, Äbtissin, ist nicht Heiligkeit. Das Lied endet mit einer hochtrabenden Beschreibung einer verbotenen Arkade. Das ist ihr Bild für die Vagina.«

»Geschlechtliche Liebe, natürlich«, sagte die Äbtissin zu Adelias Verblüffung, »aber mit einer sanfteren Sehnsucht, als sie ihr meiner Erfahrung nach je zugeschrieben wurde. O ja, im Grunde besingen sie etwas Höheres, als ihnen selbst bewusst ist, sie besingen Gott, die Mutter.«

»Gott, die Mutter?«

»Gott ist unser Vater und unsere Mutter. Wie sollte es auch anders sein? Es wäre doch eine sehr voreingenommene Schöpfung, zwei Geschlechter zu erschaffen und doch nur eines zu begünstigen, auch wenn Kaplan Egbert mich tadelt, wenn ich das sage.«

Kein Wunder, dass Kaplan Egbert sie tadelte, es war ein Wunder, dass er sie nicht exkommunizierte. Ein zugleich männlicher und weiblicher Gott?

Adelia, die sich doch für eine moderne Denkerin hielt, war mit einer Vorstellung des Allmächtigen belastet, der in jedem Glauben, den sie kannte, eine schwache und sündige Frau ausschließlich zum Vergnügen des Mannes erschaffen hatte, als menschlichen Ofen, in dem sein Samen heranreifen konnte. Ein frommer Jude dankte Gott jeden Tag dafür, dass er nicht als Frau geboren worden war. Und diese kleine Nonne hier rupfte den Bart von Gottes Kinn und versah ihn nicht nur mit Brüsten, sondern auch mit einem weiblichen Geist.

Das war ein zutiefst rebellisches Denken. Aber Mutter Edyve war ja auch eine Rebellin, wie Adelia erkannte, als sie sie jetzt mit neuen Augen betrachtete, sonst wäre sie nicht bereit gewesen, den Wunsch der Kirche zu unterlaufen und den Leichnam einer Hure des Königs auf ihrem Friedhof zu bestatten. Und nur ein unabhängiger Geist konnte sich zugleich wohlgefällig über eine Königin äußern, die der Abtei nichts als Unruhe beschert hatte.

»Ja«, fuhr die vogelähnliche Stimme fort, »wir beklagen die Voreingenommenheit der Welt ebenso, wie das allmächtige Weibliche sie wohl beklagt. Doch Gottes Zeit ist nicht unsere Zeit, wie man uns sagt; ein Jahrhundert ist nur ein Augenblick für ein Wesen, das Alpha und Omega ist.«

»J-ja.« Stirnrunzelnd trat Adelia näher, setzte sich schräg auf die Stufen zum Altarraum, schlang die Arme um die Knie und starrte die reglose Gestalt im Chorgestühl an.

»Ich glaube, wir erleben in Eleanor einen solchen Augenblick«, sagte die Gestalt.

»Hä?«

»Ja, soweit ich weiß, haben wir zum ersten Mal eine Königin, die ihre Stimme für die Würde der Frauen erhebt.«

»Hä?«

»Hört zu«, sagte die Äbtissin.

Der Troubadour im Kreuzgang war mit der Komposition seines Liedes fertig. Nun sang er es, und der Klang seines wunderschönen Tenors strömte in die graue Kapelle wie Honig. »Las! Einssi ay de ma mort exemplaire, mais la doleur qu’il me convendra traire, douce seroit, se un tel espoir avoie …«

Wenn auch der Sänger vor Liebespein starb, so hatte er seinen Schmerz doch immerhin in eine Melodie gefasst, die so schön war wie der Frühling. Unwillkürlich musste Adelia lächeln. Mit dieser Mischung würde er die Dame seines Herzens schon noch erobern.

»… Dame, et se ja mes cuers reins entreprent, dont mes corps ait honneur n’avancement, de vous venracom lointeins que vos soie …«

Falls also sein Herz je irgendetwas tat, das ihm zur Ehre gereichte, dann ginge das nur auf die Geliebte zurück, und sei sie auch noch so fern.

Diese Musik, die Eleanor stets überallhin begleitete, war für Adelias taube Ohren bloß eine weitere Geziertheit gewesen, das unvermeidliche Hintergrundgeräusch für eine Frau mit all jenen Schwächen, die man der weiblichen Natur zuschrieb; eine eitle, eifersüchtige und oberflächliche Frau, die in anmaßender Selbstüberschätzung beschlossen hatte, Krieg gegen einen Mann zu führen, der größer war als sie.

Doch die Äbtissin lauschte dieser Musik, als wäre es eine Lesung der Heiligen Schrift.

Und während Adelia mit ihr lauschte, geriet sie ins Grübeln. Sie hatte die kunstvolle, seufzende Poesie der Höflinge ebenso abgetan wie ihr Interesse an Kleidung und ihre parfümierten Locken, weil sie sie nach den Maßstäben einer rauhen Männlichkeit beurteilt hatte, die von einer rauhen männlichen Welt aufgestellt worden waren. War es denn wirklich dekadent, Zartes und Schönes zu bewundern? Rowley, so dachte sie mit einer schmerzlich zärtlichen Aufwallung, hätte das so gesehen – er hatte alles Weibliche an Männern verachtet und die Vorliebe seines Boten für wohlriechende Essenzen in etwa so schlimm eingestuft wie die übelsten Exzesse des Kaisers Caligula. Doch Eleanors Spielart dessen konnte ja gar nicht dekadent sein, weil sie neu war. Adelia setzte sich auf. Bei Gott, sie war neu. Die Äbtissin hatte recht. Ob nun bewusst oder nicht, die Königin trug in die kulturlosen bäuerlichen Regionen ihres Reiches ein Bild von Frauen als Menschen, die Respekt verdienten, und nicht als Waren, sondern wegen ihres persönlichen Wertes geschätzt und geachtet werden sollten. Dieses Bild forderte, dass Männer sich Frauen verdienen mussten.

Eleanor hatte Wolvercote ihren Höflingen gegenüber für einen Moment nicht als mächtigen Mann hingestellt, der sich das geholt hatte, was ihm zustand, sondern als eine brutale Bestie, die ihre Beute zum Fraß in den Wald schleppte.

»Ich vermute, Ihr habt recht«, sagte Adelia fast widerwillig.

»… vous que j’aim tres loyaument. Ne sans amours, emprendre nel saroie.«

»Aber es ist Heuchelei, es ist künstlich«, gab Adelia zu bedenken. »Liebe, Ehre, Achtung, wann werden sie denn je den einfachen Frauen erwiesen werden? Ich glaube kaum, dass der Junge das, was er da singt, auch tatsächlich praktiziert. Es ist … es ist eine hübsche Heuchelei.«

»Oh, ich halte viel von Heuchelei«, sagte die kleine Nonne. »Sie legt ein Lippenbekenntnis zu einem Ideal ab, das demzufolge auch existieren muss. Sie räumt ein, dass es ein Gutes gibt. In gewisser Weise ist sie ein Merkmal der Zivilisation. Bei den Tieren auf den Feldern findet man keine Heuchelei. Und auch nicht bei Lord Wolvercote.«