»Was nützt das Gute, wenn sich niemand dran hält?«
»Genau die Frage habe ich mir auch gestellt«, sagte Mutter Edyve ruhig. »Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die frühen Christen sich das vielleicht auch gefragt haben und dass Eleanor auf ihre eigene Weise vielleicht einen Anfang gemacht hat, indem sie den ersten Stein für ein Fundament gelegt hat, auf dem die Töchter unserer Töchter irgendwann mit Gottes Hilfe beginnen können, ein neues und besseres Jerusalem zu erbauen.«
»Zu spät für Emma«, sagte Adelia.
»Ja.«
Vielleicht, dachte Adelia trübselig, konnte nur eine sehr alte Frau voller Hoffnung auf einen einzigen Grundstein in einer weiten Ödnis blicken.
Sie blieb noch eine Weile sitzen und lauschte. Der Sänger hatte die Melodie gewechselt und das Thema: »Ich würde Euch des Abends nackt in den Armen halten, auf dass wir im Sinnenrausch zusammenliegen, mein Kopf an Eurer Brust …«
»Dennoch, auch das ist eine Form der Liebe«, sagte Mutter Edyve, »und für unseren großen Elterngott, der unsere Körper so geschaffen hat, wie sie sind, ist vielleicht alle Liebe eins.«
Adelia lächelte ihr zu und dachte daran, wie es mit Rowley im Bett war. »Man hat mich gelehrt, dass es so ist.«
»Mich auch, was für die Männer spricht, die wir geliebt haben.« Sie stieß einen nachdenklichen Seufzer aus. »Aber erzählt das nicht Kaplan Egbert.«
Die Äbtissin erhob sich mühsam und erprobte ihre Beine.
Ermutigt stand Adelia auf und half ihr, ihren Umhang zu ordnen. »Mutter«, sagte sie impulsiv, »ich fürchte um die Sicherheit von Dakers, der Haushälterin.«
Eine dick geäderte Hand winkte sie weg. Mutter Edyve wollte jetzt gehen und war ungeduldig. »Ihr seid eine emsige kleine Seele, Kind, und ich danke Euch dafür, aber Dakers’ Sicherheit könnt Ihr getrost mir überlassen.«
Als sie nach draußen hinkte, sagte sie noch etwas, doch die Worte waren schwer zu verstehen. Es klang wie: »Schließlich habe ich den Schlüssel zum Gefängnis.«
Am Ende dieses Tages hatte Adelia sich verändert. Vielleicht war es der Zorn über die Vergewaltigung von Emma Bloat. Vielleicht war es der Zorn über den Anschlag auf Dakers’ Leben. Vielleicht war es der Mut, den Mutter Edyve in ihr geweckt hatte.
Was auch immer, sie wusste, dass sie sich nicht weiter im Gästehaus verkriechen durfte, während Mörder und Entführer schalten und walten konnten, wie es ihnen beliebte.
Im Grunde hatte der Mörder von Rosamund und Bertha einen Pakt mit ihr geschlossen: Lass mich in Ruhe, und deinem Kind wird nichts widerfahren.
Es war ein schändlicher Pakt, aber sie hätte sich trotzdem daran gehalten, weil sie vorausgesetzt hatte, dass er nicht wieder töten würde.
Aber er hatte einen brennenden Lappen durch einen Luftschlitz geworfen, als wäre die Frau in dem Raum bloß Müll.
Das kann ich nicht zulassen, sagte sie ihm.
Sie hatte Angst, sogar sehr große Angst. Ihre Kleine würde so gut beschützt werden müssen wie noch kein Kind vor ihr, aber sie und ihre Tochter konnten nicht auf Kosten des Todes anderer Menschen weiterleben.
»Wo willst du hin?«, rief Gyltha ihr nach.
»Ich gehe mich umhören.«
Sie fand Jacques im Kloster, wo ihm einer der Troubadoure das Gambespiel beibrachte. Die Höflinge hatten sich überall breitgemacht, und offenbar waren die Nonnen von den Geschehnissen zu eingeschüchtert, um ihnen Einhalt zu gebieten.
Sie zerrte den widerwilligen Boten ein Stück weg, bugsierte ihn auf einen großen Stein, der als Steighilfe beim Aufsitzen diente, und nahm neben ihm Platz.
»Ja, Mistress?«
»Ihr sollt mir helfen herauszufinden, wer den Mord an Talbot aus Kidlington angeordnet hat.«
Er war verblüfft. »Ich weiß nicht, ob ich das kann, Mistress.«
Ohne auf seinen Einwand einzugehen, zählte sie diejenigen auf, die sie verdächtigte: »Wolvercote, Master Warin, der Torwächter und die Bloats.« Dann ging sie ins Detail.
Er rieb sich das Kinn. Er war jetzt glatt rasiert wie alle jungen Männer in Eleanors Gefolge.
»Ich weiß nicht, ob es hilft, aber eins kann ich Euch sagen«, stellte er schließlich fest. »Advokat Warin hat ein großes Getue gemacht, als er Lord Wolvercote in der Kirche vorgestellt wurde. ›Ist mir eine große Ehre, Eure Bekanntschaft zu machen, Mylord. Wir sind uns ja noch nie begegnet, aber ich hatte schon lange den Wunsch, Euch … und so weiter und so weiter.‹ Deutlicher ging’s nicht – ich war da und hab ihn gehört. Er hat bestimmt drei- oder viermal fallenlassen, dass sie sich vorher noch nie begegnet waren.«
»Wie hat Wolvercote Master Warin begrüßt?«
»Wie er nun mal alle Menschen behandelt – als wäre er aus irgendeinem Hintern gekrochen.« Er verzog das Gesicht, fürchtete, sie beleidigt zu haben. »Verzeihung, Mistress.«
»Aber Ihr glaubt, Warin hat nur so getan, als wären sie sich noch nie begegnet?«
Jacques überlegte kurz. »Ja, das glaube ich.«
Adelia fröstelte. Wächter war unter ihre Röcke gekrochen und drückte sich wärmesuchend an ihre Knie. Gegenüber am Haus der Äbtissin glotzte ein Wasserspeier sie an, am Kinn ein Eiszapfenbart.
Ich beobachte dich.
Sie sagte: »Emma hatte eine gute Meinung von Master Warin, was bedeutet, dass Talbot das auch hatte, was wiederum bedeutet, dass der Junge ihm vertraute …«
»So sehr, dass er ihn in seine Fluchtpläne eingeweiht hat?« Beim Boten keimte Interesse auf.
»Ich weiß, dass er das getan hat«, sagte sie. »Emma hat es mir erzählt. Der Junge hat Warin gesagt, dass er an seinem Geburtstag mit Emma fliehen wollte, also an dem Tag, an dem er sein Erbe antreten konnte …«
»Das Master Warin jedoch ohne Talbots Wissen inzwischen durchgebracht hatte …« Er fand Gefallen an der Sache.
Adelia nickte. »Das Master Warin vielleicht durchgebracht hat, was, falls dem so ist, die Beseitigung des jungen Vetters erforderlich machte …«
»… und dann dämmert es Master Warin, dass er in Lord Wolvercote ja einen Verbündeten hat. Dem alten Wolf würden eine Braut und ein Vermögen durch die Lappen gehen, wenn der Fluchtplan gelingt.«
»Richtig. Also geht er zu Lord Wolvercote und schlägt ihm vor, dass Talbot sterben soll.«
Sie dachten eine Weile darüber nach.
»Wieso war es so dringend, dass Talbots Leiche gleich identifiziert wird?«, grübelte Adelia.
»Das liegt doch auf der Hand, Mistress. Advokat Warin könnte in Geldnöten stecken – er sieht aus wie ein Mann, der es sich gern gut gehen lässt. Es hätte zu lange gedauert, einem Untersuchungsrichter zu beweisen, dass das Vermögen der anonymen Leiche ihm gehört, falls er Talbots Erbe ist. So etwas dauert seine Zeit. Gerichte arbeiten langsam. Seine Gläubiger hätten ihn drangekriegt, ehe er über das Erbe hätte verfügen können.«
»Und Wolvercote war daran gelegen, dass Emma vom Tod ihres Geliebten erfährt. Ja, das passt alles zusammen.« Sie sagte: »Wolvercote hat die Mörder gedungen. Warin kannte sie wahrscheinlich nicht.«
»Und dann hat Wolvercote sie nach vollbrachter Tat beseitigt. So könnte es gewesen sein, Mistress.«
Durch das Gespräch war der Fall für Adelia sonnenklar geworden, von bloßer Theorie zu Wirklichkeit gereift. Zwei Männer hatten sich verschworen, um ein junges Leben auszulöschen. In Advokatenhäusern wurde das Böse als geschäftliche Transaktion erörtert, in Herrenhäusern bei einer Flasche Wein gründlich durchdacht; Männer wurden darin unterwiesen. Normalität, Güte waren Annehmlichkeiten, die gegen Geldgier aufgegeben wurden. Unschuld stand dagegen auf verlorenem Posten. Sie selbst stand dagegen auf verlorenem Posten. Das Böse lachte von den Dächern auf sie herab.