»Dann ist er ebenso schuldig.«
»Als hätte er selbst den Bolzen abgeschossen, ja. Er hätte behaupten können, dass er von den Fluchtplänen wusste und in die Abtei gekommen ist, um sie zu vereiteln. Das hätte erklärt, wieso er so schnell hier war. Aber er hat es nicht gesagt – ich hab ihm die Gelegenheit dazu geboten –, weil die Leute dann denken würden, dass er Wolvercotes Werkzeug ist, und er beteuert, sie seien einander vorher nie begegnet. Im Grunde hätte es ihn nicht belastet, wenn er zugegeben hätte, dass sie sich kennen, aber sie haben zusammen den Mord an dem Jungen geplant, und das beeinträchtigt sein Urteilsvermögen. Das Schuldgefühl treibt ihn dazu, sich möglichst deutlich von Wolvercote zu distanzieren, auch wenn er es gar nicht müsste.«
»Er hat sein eigen Fleisch und Blut verraten, Allah spuckt auf ihn. Können wir es beweisen?«
»Wir werden es versuchen.« Adelia holte Allie aus der Hüftschlinge und rieb die Wange an dem flaumigen Kopf ihrer Tochter. Die banale Durchschnittlichkeit eines Mörders wie des kleinen Advokaten Warin war noch viel deprimierender als die Brutalität eines Wolvercote.
Plötzlich wurde sie ruppig zur Seite gedrückt, als Cross den Platz einnahm, den Warin verlassen hatte, und die Kälte von draußen mit hereinbrachte. »Rückt ein Stück.« Der Söldner begann, wie ein Verhungernder nach den Speisen zu greifen.
»Wo habt Ihr gesteckt?«, fragte sie.
»Was glaubt Ihr denn wohl, wo ich gesteckt hab? Ich bin vor diesem Scheißgefängnis auf und ab marschiert. Das nenn ich Zeitverschwendung. Sie is nämlich weg.«
»Wer ist weg?«
»Dieser alte Dämon. Der Abt hat mir selbst gesagt, sie ist ein Dämon. Wer dachtet Ihr denn?«
»Dakers? Dakers ist verschwunden?« Sie sprang auf und erschreckte Allie, die gerade das Mark aus einem Rinderknochen lutschte. »Großer Gott, sie haben sie geholt.«
Bratensoße tropfte Cross vom Kinn, als er zu ihr hochblickte. »Was redet Ihr denn da? Die hat keiner geholt. Die is verschwunden. So is das mit Dämonen, die verschwinden einfach.«
Adelia setzte sich. »Lasst hören.«
Wie es geschehen war oder auch nur wann, konnte Cross ihr nicht sagen, weil er es nicht wusste. Niemand wusste das. Es war erst vor kurzem entdeckt worden, als Cross die Gefängnistür aufgeschlossen hatte, weil ein Küchenjunge auf Anweisung der Cellerarin mit einem Tablett mit Weihnachtsessen für die Gefangene erschienen war.
»Der Schlüssel hängt an so ’nem Ring, versteht Ihr«, sagte er. »Jeder Wachposten gibt ihn an den nächsten weiter, wenn er seinen Dienst antritt. Oswald hat ihn mir gegeben, als ich übernommen hab, und als sein Dienst anfing, hat er ihn von Walt gekriegt, und die beiden schwören, sie haben diese Scheißtür kein einziges Mal aufgemacht, und ich auch nicht, bis gerade eben …«
Er verstummte kurz, um sich ein Stück Rindfleisch in den Mund zu schieben.
»Und?«, fragte Adelia ungehalten.
»Und ich steck also den Schlüssel ins Schloss, dreh ihn, mach die Tür auf, und der Junge geht mit dem Futter rein, und da war sie … weg. Weit und breit keine Spur von ihr.«
»Irgendwer muss sie rausgelassen haben.« Adelia war noch immer beunruhigt.
»Nein, das kann nicht sein«, sagte Cross. »Wenn ich’s Euch doch sage, bis dahin hatte keiner diese Scheißtür aufgemacht. Das Weib is verschwunden. So is das mit Dämonen, die verschwinden. Hat sich in ein Rauchwölkchen verwandelt und is durch den Luftschlitz raus, jawohl.«
Er hatte Schwyz zum Gefängnis gerufen, sagte er, und deutete mit dem Kinn auf den leeren Platz am oberen Tischende, wo der Söldnerführer gesessen hatte. Auch Schwester Havis war geholt worden.
»Aber ich sag’s Euch, die findet keiner mehr, weil die verschwunden is, zurück in die Hölle, wo sie herstammt. Bei ’nem Dämon wundert mich das nich. Da kommt er ja, sieh sich den einer an, der scheißt sich gleich ins Hemd.«
Ein wütend dreinblickender Schwyz war in die Scheune gekommen und marschierte jetzt auf den Tisch zu, wo der Abt von Eynsham neben der Königin saß. Die Feiernden waren zu sehr mit Zechen und Tafeln beschäftigt, um auf ihn zu achten, nur diejenigen, denen er die Neuigkeit überbrachte, merkten auf.
Adelia sah, dass Eleanor lediglich die Brauen hochzog, doch der Abt erhob sich sofort. Er schien irgendwas zu brüllen, doch bei dem allgemeinen Lärm konnte Adelia ihn nicht hören.
»Der will die Abtei durchsuchen lassen«, erklärte Cross. »Aber das kann er vergessen. Kein Mensch lässt gutes Weihnachtsessen stehen und macht sich im Dunkeln auf die Suche nach ’nem Dämon. Ich jedenfalls nich, das weiß ich genau.«
Es war offensichtlich. Der Abt redete beschwörend auf Lord Wolvercote ein, der ihn mit einem gleichgültigen Achselzucken abspeiste. Dann wandte er sich flehend an die Äbtissin, deren Reaktion zwar höflicher war, aber ebenso ablehnend.
Während sie die Hände hob, um ihm zu verstehen zu geben, dass es sinnlos wäre, die Feiernden zu stören, wanderten Mutter Edyves ausdruckslose Augen für einen Moment durch den Raum zu Adelia.
Schließlich habe ich den Schlüssel zum Gefängnis.
»Worüber lacht Ihr?«, fragte Cross.
»Über einen Mann, der in eine Grube gefallen ist, die er selbst gegraben hat.«
Wie auch immer die Äbtissin diese Flucht zuwege gebracht hatte, wer auch immer von Dakers’ Wächtern dazu gebracht worden war, beide Augen zuzudrücken, der Abt von Eynsham konnte niemanden beschuldigen oder bestrafen. Dadurch, dass er darauf bestanden hatte, Rosamunds Haushälterin einzusperren, hatte er selbst sie dämonisiert. Da konnte er sich jetzt nicht beschweren, dass sie etwas getan hatte, was bei Dämonen anscheinend an der Tagesordnung war, wie Cross meinte.
Adelia beugte sich grinsend zu Gyltha vor, die zur anderen Seite des Arabers saß, und erzählte ihr, was passiert war.
»Da kann man der alten Vogelscheuche nur viel Glück wünschen«.
Gyltha nahm noch einen tiefen Zug aus ihrem Becher, den sie schon etliche Male mit Begeisterung geleert hatte.
Mansur sagte auf Arabisch: »Männer von Godstow haben durch den Schnee einen Pfad zum Fluss gegraben. Auf Anweisung der Äbtissin. Ich hab gehört, wie dieser Fitchet gesagt hat, sie würden das machen, damit die Königin auf dem Fluss eislaufen könne. Aber jetzt denke ich, sie haben für Rosamunds Frau einen Fluchtweg angelegt.«
»Sie haben sie gehen lassen? Bei diesem Wetter?« Adelias Belustigung verflog. »Ich dachte, sie würden sie hier irgendwo in der Abtei verstecken.«
Mansur schüttelte den Kopf. »Bei den vielen Menschen hier hätte sie irgendwer entdeckt. Sie wird überleben, so Allah es will. Bis Oxford ist es nicht weit.«
»Sie wird aber nicht nach Oxford gehen.«
Es gab nur einen Ort, den Dakers zu erreichen versuchen würde.
Bis zum Ende des Essens und auch, als die Tische beiseitegeschoben wurden, um in der Scheune Platz zum Tanzen zu schaffen, dachte Adelia an den Fluss und die Frau, die auf ihm unterwegs nach Norden war. Würde das Eis sie halten? Konnte sie die Kälte überleben? Hatte der Abt, der sich bestimmt denken konnte, wo sie hinwollte, Männer und Hunde hinter ihr hergeschickt?
Mansur sah sie an und sagte: »Allah schützt die Wahnsinnigen. Er wird entscheiden, ob die Frau lebt oder stirbt.«
Doch gerade weil Dakers wahnsinnig war und weil sie keine Freunde hatte und weil sie zu viel wusste, spürte Adelia die Verantwortung für die Frau schwer auf sich lasten.
Allah, Gott, wer immer du bist, behüte sie.
Doch dann wachte Allie auf, die wohlig satt eine Weile geschlafen hatte. Sie musste von oben bis unten gereinigt werden, frische Windeln bekommen und wollte unterhalten werden, so dass Adelia gezwungen war, sich wieder ihrer Umgebung zu widmen.
An Unterhaltung bestand kein Mangel. Die Troubadoure hatten sich auf dem Heuboden versammelt und musizierten mit solchem Elan und Schwung, dass sich keiner entziehen konnte. Auf einer Seite der Scheune tanzten die Königin und ihr Gefolge mit spitzfüßiger, leichthändiger Eleganz, während die Engländer am anderen Ende in wogenden, lärmenden Kreisen umherhüpften.