Arri sah ihre Mutter nun noch verwirrter an. Was hatten das Wetter und das nächste Frühjahr mit dem zu tun, worum sie sie gerade gebeten hatte? Sie behielt jedoch sowohl ihre Verwirrung als auch all die Fragen, die ihr auf der Zunge brannten, für sich und geduldete sich, bis ihre Mutter von sich aus fortfuhr. »Erinnerst du dich, was ich dir über dieses Schwert erzählt habe? Die Sterne, die in seinem Griff abgebildet sind?« Sie hielt Arri abermals den Schwertgriff hin, und ihr auffordernder Blick machte deutlich, was sie von ihr erwartete. Arri gehorchte und sah den kunstvoll verzierten, im schwachen Licht nun wieder fast schwarz erscheinenden Knauf gehorsam an, doch sie hatte kein gutes Gefühl dabei. Die Erinnerung an das, was gerade geschehen war, war noch zu frisch. Es nutzte ihr rein gar nichts, sich selbst zu versichern, dass sie die düstere Seele dieser Waffe nicht wirklich gespürt, sondern sich das unheimliche Erlebnis nur eingebildet hatte.
»Zeig sie mir noch einmal«, verlangte Lea.
»Die Plejaden?«
Lea nickte, und Arri deutete gehorsam auf den Kreis aus sieben goldenen Punkten auf dem Schwertgriff und dann auf die fünf sichtbaren, in kaltem Weiß schimmernden Sterne über ihnen am Himmel.
»Und weißt du noch, was ich dir darüber erzählt habe?« Leas ausgestreckter Finger deutete auf den winzigen, goldfarbenen Viertelkreis unter dem Siebengestirn auf dem Schwertknauf.
»Der... Himmelswagen?«, murmelte Arri. Sie erinnerte sich nur mühsam. Ihre Mutter hatte ihr eine Menge über dieses Schwert erzählt, aber vieles davon hatte mit den Göttern und ihrem Glauben zu tun, die beide zusammen mit ihrer Heimat untergegangen waren, und warum hätte sie sich etwas merken sollen, das für sie von keinerlei Belang mehr war? Trotzdem schien sie nicht ganz falsch gelegen zu haben, denn ihre Mutter sah zwar nicht völlig zufrieden aus, nickte aber trotzdem.
»Der Himmelswagen, mit dem die Sonne ihre Reise durch die Nacht antritt, um am Morgen wieder am Himmel zu erscheinen«, bestätigte sie, schüttelte aber fast gleichzeitig den Kopf. Ein kurzes, flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen und erlosch ebenso rasch wieder, wie es erschienen war. »Jedenfalls ist es das, was die meisten glauben. Und was sie auch glauben sollen.«
»Aber es ist nicht die Wahrheit«, vermutete Arri.
Statt sofort zu antworten, drehte ihre Mutter das Schwert herum, sodass sich der goldene Viertelkreis nun über dem winzigen Siebengestirn befand; eine fragend hochgezogene Augenbraue über einem leblos starrenden Götterauge. Arri war verwirrt und sah ihre Mutter auch mit dem gleichen Ausdruck an, doch Lea lächelte nur weiter und ließ noch ein paar Augenblicke verstreichen, wie um sicherzugehen, dass ihre Tochter auch tatsächlich gesehen hatte, was sie ihr zeigen wollte, dann deutete sie mit der anderen Hand zum Himmel, hinauf zu dem unvollkommenen Zwilling des Sternbildes auf dem Schwertgriff, und Arris Blick folgte der Geste, und dann sah sie es so deutlich, dass sie sich verblüfft fragte, wieso es ihr nicht die ganze Zeit über schon aufgefallen war: Auch über dem Vorbild des Schwertknaufs dort oben am Himmel spannte sich ein fast vollkommener Viertelkreis, nur dass er nicht aus Gold bestand, sondern aus zahllosen blitzenden Lichtpunkten, hunderte und tausende und abertausende von Sternen, die sich in einem gewaltigen Band dort oben entlangzogen. Es war ein wunderschöner Anblick, der Arri umso mehr verblüffte, als ihr klar wurde, dass es ihn nicht erst seit jetzt gab, sondern diese Sterne dort oben leuchteten, so lange sie lebte, und schon sehr viel länger. Und trotzdem hatte sie sie bis eben noch niemals wirklich gesehen.
»Was... ist das?«, murmelte sie stockend. Ihre Stimme bebte ganz leicht. Auch wenn sie die Antwort auf ihre eigene Frage kannte - es waren Sterne, was sonst? -, so spürte sie doch jetzt vielleicht zum ersten Mal, aber mit unerschütterlicher Gewissheit, dass es eben nicht nur Lichter am Himmel waren, nicht nur die schlafenden Götter oder Geister oder Dämonen, für die die meisten anderen sie halten mochten, falls sie sich überhaupt Gedanken darüber machten, sondern mehr. Sie hatte das Gefühl, von etwas Großem berührt zu werden, von etwas fast Heiligem.
»Alles«, antwortete ihre Mutter, und auch in ihrer Stimme klang ein schwacher Anflug jener Ehrfurcht an, die Arri empfand. Sie drehte das Schwert wieder um und amüsierte sich einen Moment lang sichtlich über Arris Stirnrunzeln, als der goldene Halbkreis nun wieder unterhalb des Siebengestirns war. »Siehst du? Manchmal ist es das Allereinfachste, das größte Geheimnis im Offensichtlichen zu verbergen.«
»Dann ist das...?« Arri deutete fast schüchtern auf den Schwertknauf. »... so etwas wie... wie Goseg?«
Lea wirkte für einen Moment ehrlich verblüfft. »Ja. Wenn du so willst. Nor und seine Priester richten Steine auf und bauen gewaltige Heiligtümer, aber nur die Wenigsten von denen, die in diesen Heiligtümern beten und ihren Tribut entrichten, ahnen, dass sie im Grunde nur einem einzigen Zweck dienen: die Zeit zu messen.« Sie lächelte traurig. »Auch ich war einst ganz ähnlich wie Nor und die anderen. Eine Priesterin, Arianrhod. Unser Glaube war vielleicht nicht ganz so grausam wie der dieser Menschen hier, und unser Einfluss auf das Leben der Menschen nicht ganz so groß, und doch ist der Unterschied nicht so gewaltig, wie ich mir immer eingeredet habe.«
Eine unbestimmte Trauer schwang in ihrer Stimme mit, und Arri fragte: »Aber was ist daran so schlimm?«
»Vielleicht nichts«, erwiderte Lea, allerdings in einem Ton, der das genaue Gegenteil besagte. »Wir belügen die Menschen, das ist alles. Wir tun es zu ihrem Besten, aber das ändert nichts daran, dass wir sie belügen.«
Sie schwieg einen Moment, dann schüttelte sie abgehackt und irgendwie zornig den Kopf und hob noch einmal das Schwert. »Du hast Recht, Arianrhod. Alles, wozu Nor und seine Priester mit ihrem gewaltigen Heiligtum in Goseg fähig sind, ist auch in diesem Schwert verborgen, und noch viel mehr. Die meisten halten es für eine Waffe, und das ist es auch, aber es ist darüber hinaus auch ein Instrument gewaltiger Macht. Denn wer den genauen Verlauf der Jahreszeiten kennt, den Tag der Sommer- und Wintersonnenwende, der weiß auch, wann die Saat ausgebracht werden muss und wann es Zeit ist, die Ernte einzuholen, wann die Zeit der Stürme beginnt und die Flüsse steigen.«
Sie machte eine unbestimmte Bewegung in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Das ist es, was Nor und Sarn und all die anderen fürchten, Arianrhod. Nicht meine Heilkunst, denn die können sie verstehen. Nicht mein Wissen um die Natur, das Verhalten der Tiere, denn das ist gar nicht so viel größer als das ihre. Manches habe ich erst in diesem Land und von den Menschen hier gelernt. Was sie fürchten, ist mein Wissen um die Zeit, um den Weg der Sonne und des Mondes, und um die Jahreszeiten. Es hat nichts mit den Göttern oder Magie zu tun, Arianrhod. Unser Volk hat den Himmel über zahllose Generationen hinweg beobachtet, und vor unserem ein anderes und davor wieder ein anderes. Es ist nur das gesammelte Wissen zahlloser Generationen. Nicht mehr.«
»Aber warum sagen sie es den Menschen dann nicht einfach?«, wunderte sich Arri.
Zu ihrer Überraschung lachte Lea auf. »Aber wo kämen wir hin, wenn jeder einfache Bauer und Fischer wüsste, wann es Zeit ist, etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen?« Sie lachte erneut und schüttelte heftig den Kopf, als hätte Arri einen besonders guten Scherz gemacht. »Du hast es bereits begriffen, Arianrhod, auch wenn du es vielleicht selbst nicht weißt. Das hier ist das letzte Geheimnis der Priester. Wenn du es offenbarst, beraubst du sie ihrer Macht über die Menschen, und das ist es, was sie fürchten. Wüsste Nor genau, wo mein geheimes Wissen verborgen ist, hätte er es mir längst gestohlen und mich getötet.«