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Spätestens jetzt, dachte sie, wäre der unwiderruflich letzte Moment, ihrer Mutter von ihrer Begegnung am vergangenen Abend zu erzählen, ohne sich der unangenehmen Frage stellen zu müssen, warum sie so lange damit gewartet hatte. Aber aus irgendeinem Grund... schaffte sie es wieder einmal nicht, ihrer Mutter etwas wirklich Wichtiges zu sagen. Sie schwieg beharrlich weiter und warf ihrer Mutter nur dann und wann einen verstohlenen Blick aus den Augenwinkeln zu, bis Leas Anspannung wieder wich. Wahrscheinlich war es wirklich nur ein Tier gewesen oder irgendein anderes, zufälliges Geräusch. Einen Moment lang amüsierte sich Arri bei der Vorstellung, was Dragosz wohl für ein Gesicht machen würde, wenn er im Morgengrauen aufwachte und feststellte, dass die beiden Frauen, über die er seinen unsichtbaren, schützenden Arm gebreitet hatte, schon längst auf und davon waren.

Plötzlich wurde ihr klar, dass sie sich gerade in Gedanken selbst als Frau bezeichnet hatte. Zum allerersten Mal, und sie musste lächeln. Vielleicht war es tatsächlich so, wie ihre Mutter behauptete, und sie wurde allmählich erwachsen.

Der Morgen graute, doch sie kamen nicht schneller voran, denn im gleichen Maße, in dem es heller wurde, wurde der Weg auch schwieriger, sodass ihr Tempo eher sank, statt zuzunehmen. Außerdem wurde es kälter, nicht wärmer. Gestern Morgen, als sie aufgebrochen waren, waren Arri die Berge so fern und unerreichbar erschienen, dass sie nicht einmal darüber nachgedacht hatte, jemals dorthin zu gelangen. Jetzt waren sie den Bergen nicht wirklich näher gekommen, aber das Gebiet, durch das sie sich bewegten, unterschied sich doch ganz und gar von den dichten Wäldern, in denen sie aufgewachsen war. Der Boden war steinig. Immer wieder tauchten gewaltige Findlinge aus dem Wurzelgeflecht auf, das die trockene Erde bedeckte, sodass der Wagen stecken zu bleiben oder sich gleich ganz fest zu fahren drohte, und einmal mussten sie absteigen und das schwerfällige Gefährt ein gutes Stück den Weg zurück und noch dazu bergauf schieben, um sich einen anderen Weg zu suchen.

Auf diese Weise verging die Hälfte des Tages. Als die Sonne den höchsten Punkt ihrer Bahn erreicht hatte, hielt Lea den Wagen an und bereitete wortlos aus ihren Vorräten eine Mahlzeit zu. Sie bestand weiterhin darauf, kein Feuer zu machen, auch wenn Arri diese Vorsichtsmaßnahme nicht mehr ganz einsah; während der Nacht war ein Feuerschein weithin sichtbar und verräterisch, aber tagsüber bestand diese Gefahr kaum, und so ziemlich das Erste, was Lea ihr beigebracht hatte, war, wie man ein Feuer dazu brachte, vollkommen ohne Rauch zu brennen. Trotzdem widersprach sie nicht, sondern sah ihrer Mutter nur wortlos zu, wie sie Wasser und Essen aus ihren Beuteln nahm und die notwendigen Vorbereitungen traf. Immerhin verzichtete sie diesmal wenigstens darauf, sie auf einen vollkommen überflüssigen Botengang zu schicken.

Sie aßen so schweigend, wie sie den ganzen Tag miteinander auf dem Kutschbock gesessen hatten, dann setzten sie ihren Weg fort. Zweimal noch fragte Arri ihre Mutter, wohin sie eigentlich unterwegs waren, bekam aber jedes Mal nur eine ebenso wortkarge wie mürrische Antwort, sodass sie auf einen dritten Versuch gleich ganz verzichtete.

Als es zu dämmern begann, steuerte Lea den Wagen in den Schatten einiger dürrer Bäume, deren schon nahezu blattlose Äste allerdings kaum wirklich Schutz vor Entdeckung boten. Der Boden war auch hier mit Felsbrocken und spitzen Steinen übersät, und da, wo er es nicht war, sumpfig und nass, und ein unangenehmer, fast fauliger Geruch ging davon aus, sodass Lea kurzerhand entschied, die Nacht auf der Ladefläche des Wagens zu verbringen. Arri knurrte mittlerweile der Magen, aber wenn sie daran dachte, was sie gestern und heute Mittag gegessen hatte, verspürte sie eigentlich keine große Lust auf eine weitere, so wenig schmackhafte Mahlzeit.

Trotz der satten Zeiten, die das Dorf gerade erlebte, war sie es gewohnt, hin und wieder zu hungern, und ihre Mutter hatte ja selbst gesagt, dass sie nicht viel mehr als zwei Tage brauchen würden, um ihr Ziel zu erreichen. Was machte da schon eine Nacht mit leerem Magen, wenn sie am nächsten Tag am Ziel waren und die festliche Mahlzeit auf sie wartete, die die Gastfreundschaft vorschrieb, wenn Freunde zu Besuch kamen? Sie schlief auch in dieser Nacht mit dem festen Vorsatz ein, ihrer Mutter gleich am nächsten Morgen von ihrer Begegnung mit Dragosz zu erzählen, doch als ihre Mutter sie weckte, war sie noch viel zu benommen und schlaftrunken, um auch nur einen Laut hervorzubringen.

»Still!«, zischte Lea. »Da ist jemand.«

»Ich weiß«, nuschelte Arri schlaftrunken. Natürlich war da jemand. Dragosz hatte ihr ja versichert, die ganze Zeit in ihrer Nähe zu bleiben, um auf sie Acht zu geben, und vermutlich war er nun in seinem Bestreben, sie und ihre Mutter nicht noch einmal aus den Augen zu verlieren, unvorsichtig geworden oder hatte die Schärfe von Leas Sinnen einfach unterschätzt. »Es ist...«

»Still!«, unterbrach sie ihre Mutter erneut und in noch schärferem Ton. »Keinen Laut!«

Mit den umständlichen Bewegungen eines Menschen, der viel zu schnell aus einem tiefen Schlaf gerissen worden ist, setzte sich Arri vollends auf. Umständlich, aber alles andere als vorsichtig, sodass der ganze Wagen zu schaukeln anfing und die hölzerne Konstruktion ein hörbares Knarren und Quietschen von sich gab - was ihr einen weiteren, ärgerlichen Blick ihrer Mutter einbrachte. Sie setzte noch einmal dazu an, ihrer Mutter zu erklären, wer es war, dessen Nähe sie bemerkt hatte, aber Leas Blick ließ sie sich anders besinnen. Mochte ihre Mutter doch ihr Schwert nehmen und losschleichen. Sie würde eine Überraschung erleben. Und dasselbe galt vermutlich nicht minder für Dragosz. Und was Arri anging: Sie gönnte es ihnen beiden.

Mit einem stummen Achselzucken setzte sie sich endgültig auf, fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht und unterdrückte ein Gähnen, während sie müde in den Himmel hinauf und nach Osten blinzelte. Sie konnte die Berge als gezackte Schattenlinie vor einem dunstigen Streifen aus fast schwarzem Grau erkennen. Bis zum Sonnenaufgang war es noch eine geraume Weile hin, anscheinend, dachte sie resignierend, war es allmählich ihr Schicksal, in keiner Nacht mehr ausreichend Schlaf zu bekommen.

»Bleib, wo du bist«, beschied ihre Mutter, während sie sich bereits erhob und nahezu lautlos von der Ladefläche des Wagens herunterglitt. Arri hatte nicht vorgehabt, irgendetwas anderes zu tun, und so hob sie nur abermals die Schultern und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Anders als ihre Mutter wusste sie sowohl, was sie gehört hatte, als auch, dass ihnen nicht die mindeste Gefahr drohte, sodass sie ganz ernsthaft erwog, sich auszustrecken und weiter zu schlafen. Wenn ihre Mutter Dragosz tatsächlich traf, dann war es ganz und gar nicht sicher, dass sie so schnell zurückkam.

Aber sie war nun einmal wach, und obwohl sie so müde war, als hätte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan, spürte sie zugleich auch, dass sie jetzt keinen Schlaf mehr finden würde. Also beschloss sie, sich in Geduld zu fassen, und vertrieb sich die Zeit damit, sich alle möglichen lustigen oder auch peinlichen Situationen vorzustellen, in die ihre Mutter und Dragosz kommen mochten, wenn sie sich unversehens gegenübersahen.

Ganz am Rande ihres Bewusstseins tauchte plötzlich ein anderer, hässlicher Gedanke auf: Was, wenn ihre Mutter oder Dragosz falsch reagierten und der eine den jeweils anderen in der Dunkelheit für einen Angreifer hielt? Was das anging, wusste sie wenig über Dragosz, dafür aber umso mehr, wozu ihre Mutter imstande war. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihrer Mutter nicht zu sagen, auf wen sie treffen würde. Arri beruhigte sich mit dem Gedanken, dass Lea eine kluge Frau war. Und auch Dragosz hatte nicht den Eindruck erweckt, dass er ein Dummkopf wäre.

Sie musste länger warten, als sie gehofft, aber nicht annähernd so lange, wie sie befürchtet hatte, bis sie die Schritte ihrer Mutter hörte, und sie spürte schon, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, bevor sie sie sah. Das näher kommende Geräusch verriet ihr, dass ihre Mutter vielleicht noch nicht rannte, aber auch alles andere als langsam ging oder gar vorsichtig. Etwas stimmte nicht.