Lea ließ den Wagen, zumindest auf dem letzten Stück, zwar ein wenig langsamer rollen, lenkte ihn aber so dicht an das Haus heran, wie es überhaupt nur ging, und sprang vom Kutschbock, noch bevor sie vollkommen angehalten hatten. Der Hund, der ihnen entgegengekommen war, war plötzlich wieder da und sprang kläffend auf sie los, doch noch bevor Arri auch nur wirklich Gelegenheit fand zu erschrecken, ließ sich ihre Mutter in die Hocke sinken und streckte den Arm aus, und aus dem wütenden Gekläff des Hundes wurde ein freudiges Winseln. Schwanzwedelnd legte er sich vor ihrer Mutter auf den Rücken und ließ sich von ihr Bauch und Hals streicheln. Offensichtlich kannte er sie, dachte Arri; oder es war der schlechteste Wachhund, von dem sie je gehört hatte.
Wahrscheinlich angelockt vom Bellen des Hundes, öffnete sich eine niedrige Tür in dem Haus nur ein kleines Stück entfernt, und in dem flackernden, rotgelben Lichtschein, der herausdrang, konnte Arri eine gedrungene Gestalt erkennen. Ihre Mutter stand auf, hob grüßend die Hand und ging dem Mann entgegen, und auch Arri machte Anstalten, vom Wagen zu steigen, doch Lea hielt sie mit einer raschen Geste zurück. Arri gehorchte zwar, dachte sich aber ihren Teil - vielleicht war es mit der großen Freundschaft, die ihre Mutter angeblich mit den Bewohnern dieses Hauses verband, doch nicht so weit her; zumindest mit denen, die weniger als vier Beine hatten.
Der Mann, der unter der Tür erschienen war - Arri konnte ihn gegen das rote Licht nur als gesichtslosen Schatten erkennen, aber sie sah immerhin, dass er sehr groß und von sehr massiger Statur war -, rief ihrer Mutter ein Wort in einer Sprache zu, die Arri nicht verstand, und Lea antwortete mit einem raschen Winken und einer Bemerkung in derselben Sprache, die Arri ebenso wenig verstand, die aber eindeutig scherzhaft klang. Der Fremde legte den Kopf schräg, und seine Haltung spannte sich ein wenig, dann aber schien er Lea zu erkennen. Er drehte den Kopf und rief irgendjemandem innerhalb des Hauses etwas zu, bevor er ihrer Mutter entgegenging. Arri konnte die Worte nicht verstehen, die sie miteinander wechselten. Und dennoch meinte sie aus dem Tonfall und den kurzen, abgehackten Sätzen herauszuhören, dass es sich kaum um die Wiedersehensfreude unter alten Freunden handelte, sondern eher um ein kühles Gespräch, bei dem sich ihre Mutter eher aufs Bitten als aufs Fordern verlegte, was ungewöhnlich genug war.
Arri versuchte eine Weile, zumindest den Sinn des Gespräches zu erraten, gab es aber schließlich auf und riss ihren Blick von der Gestalt ihrer Mutter und des Fremden los, um das Haus näher in Augenschein zu nehmen. Auch jetzt, als sie ihm so nahe war, dass sie es fast hätte berühren können, war es wenig mehr als ein riesiger Schatten, der einen gut Teil des Himmels zu verdunkeln schien - oder verdunkelt hätte, hätte sie den Himmel sehen können. Den ganzen Tag über war es bewölkt und kalt gewesen, und daran hatte sich nach Sonnenuntergang nichts geändert. Die Dunkelheit ringsum wäre vollkommen gewesen, hätte es nicht die hell erleuchteten Fenster gegeben, und Arri fragte sich, ob sie den Grund für die so gefährliche Hast, in der sie diese letzte Wegstrecke zurückgelegt hatten, nicht falsch eingeschätzt hatte. Wenn es etwas gab, worauf sich ihre Mutter wirklich verstand, dann war es das Wetter. Möglicherweise hatte sie gewusst, wie bedeckt der Nachthimmel sein würde, und deshalb alles getan, damit sie ihr Ziel noch vor Einbruch einer Dunkelheit erreichten, die tatsächlich vollkommen war; auf jeden Fall zu stark, als dass sie nach Sonnenuntergang noch nennenswert hätten weiter fahren können.
Auch im roten Streulicht, das aus den Fenstern und der offen stehenden Tür drang, konnte sie wenig von dem riesigen Haus erkennen. Immerhin sah sie, dass es sich nicht nur in seiner Größe und durch die ungewöhnlichen Fenster vollständig von den Hütten ihres Heimatdorfes unterschied. Seine Wände bestanden bis auf Hüfthöhe aus zwar groben, aber kunstvoll zusammengefügten Steinen und Felsbrocken, die mit Lehm oder nasser Erde verschmiert worden waren, um Kälte und Feuchtigkeit draußen und die Wärme des Feuers drinnen zu halten. Darüber war das Haus aus Holz und einem Gemisch aus Baumrinde und Blättern erbaut, dessen Ritzen aber ebenfalls sorgsam verschmiert und abgedichtet worden waren, und zu beiden Seiten der Fenster hingen dicke Bretter von jeweils der exakten Größe eines halben Fensters, die man wohl vor die Öffnung klappen konnte. Arri hatte so etwas noch nie gesehen, erinnerte sich dann aber vage daran, dass ihre Mutter ihr einmal von Fensterläden erzählt hatte, die in ihrer alten Heimat üblich gewesen waren, um Feuchtigkeit und Kälte aus den Häusern auszusperren.
Hier zumindest schien niemand die Notwendigkeit dazu zu sehen. Obwohl es bitterkalt war, waren die Läden ausnahmslos an den Seiten eingehakt. Nicht nur der Geruch nach brennendem Holz und Torf und ein Durcheinander von Stimmen und anderen Lauten drangen zu Arri heraus, sondern auch ein Schwall trockener Wärme, der sie die beißende Kälte, die der Dämmerung auf dem Fuße gefolgt war, doppelt schmerzhaft spüren ließ.
Sie sah wieder zu ihrer Mutter hin. Lea unterhielt sich weiter und heftig gestikulierend mit dem Fremden. Arri hoffte, dass die beiden sich möglichst rasch einig würden, bevor sie hier oben auf dem Kutschbock erfror.
Unruhig rutschte sie auf dem harten Holz der Bank hin und her, das sich mittlerweile so kalt wie Eis anfühlte. Der Hund, der ihrer Mutter nicht gefolgt war, sondern noch immer auf der anderen Seite des Wagens stand, stellte sich auf die Hinterläufe, wodurch er spielend seine gewaltigen Vordertatzen auf die Sitzbank neben ihr legen konnte, und beäugte sie misstrauisch. Eingedenk dessen, was Arri gerade beobachtet hatte, wollte sie ganz instinktiv die Hand ausstrecken, um ihn zu streicheln - sie mochte Hunde über alles und hatte nie verstanden, warum ihre Mutter nicht wollte, dass auch sie zumindest einen Hund hatten -, prallte aber dann im allerletzten Moment erschrocken zurück, als sie genauer hinsah und feststellte, dass der Hund kein Hund war. Es war ein Wolf. Er war nicht so groß wie der, der sie im Wald angefallen hatte, und so gut genährt und gepflegt, dass er auf den ersten Blick tatsächlich als Hund durchgehen konnte, aber auch wirklich nur auf einen sehr flüchtigen ersten Blick.
Der Wolf legte die Ohren an, fletschte die Zähne und stieß ein leises, drohendes Knurren aus, als er ihre Angst spürte, und der Mann bei der Tür unterbrach sein Gespräch mit Lea und rief einen einzelnen, scharfen Befehl, auf den hin sich das Tier sofort zurückzog und gehorsam an seine Seite trottete. Arri blickte ihm aus ungläubig aufgerissenen Augen nach. Was waren das für Leute, die sich Wölfe als Haustiere hielten?
20
Es verging noch eine geraume Weile, bis sich ihre Mutter endlich umdrehte und zu ihr zurückkam. »Du kannst herunterkommen. Es ist alles in Ordnung. Wir können heute Nacht hier bleiben.«
»Und das hat so lange gedauert?«, erwiderte Arri. »Ich dachte, diese Leute wären deine Freunde.«
»Das sind sie auch«, sagte Lea unwirsch. »Aber das heißt nicht, dass man unangemeldet und zu jeder Zeit einfach zu ihnen kommen kann.«
Das verwirrte Arri nun völlig. Das Gesetz der Gastfreundschaft war heilig. Nicht einmal Sarn, da war sie sicher, würde einen Fremden abweisen, der zu ihm kam und um eine Mahlzeit und Obdach für eine Nacht bat. Aber sie schluckte die entsprechende Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, herunter, und als sie umständlich und steif gesessen von dem ganzen Tag auf dem Kutschbock vom Wagen kletterte, fuhr ihre Mutter von selbst und in hörbar besorgtem Ton fort: »Wir sind nicht die ersten Gäste, die heute gekommen sind. Diese Menschen sind vorsichtig.«
Arri sah ihre Mutter fragend an, aber diesmal bekam sie keine Antwort. Stattdessen bedeutete ihr Lea mit einer knappen Geste, ihr zur Hand zu gehen, während sie die Pferde abschirrte. Nachdem sie damit fertig waren, nahm sie die Zügel der Tiere und führte sie nach links in die Dunkelheit hinein, fort von der offen stehenden Tür, in der der Mann, mit dem sie geredet hatte, noch immer stand und sie beobachtete. Arri folgte ihrer Mutter, schon, weil ihr diese schattenhafte Gestalt unheimlich war - und vor allem wegen des Wolfes! -, und all ihre Zweifel zerstreuten sich, als ihr schon nach wenigen Schritten klar wurde, dass Lea sich hier tatsächlich auskannte.