Der Anprall war so gewaltig, daß Hrhon zu Boden ging. Tally sprang mit einem erschrockenen Keuchen zur Seite, als der Waga fast genau dort niederkrachte, wo sie stand, ein halb erschrockenes, halb wütendes Zischeln ausstoßend und mit beiden Fäusten auf das schwarze Chitinbündel einschlagend, das ihn umklammert hatte.
Es war Tally unmöglich, zu sagen, was es war, das Hrhon angegriffen hatte - die Kreatur war ein gutes Stück größer als er, aber nicht einmal halb so massig, machte diesen Mangel jedoch mit einer Unzahl langer, stacheliger Gliedmaßen und einem Paar schon fast grotesk großer Beißzangen wett, mit denen es Hrhons Hals abzuknipsen versuchte.
Möglicherweise wäre es ihm sogar gelungen; groß genug dazu waren die Mandibeln jedenfalls. Aber Hrhon reagierte ganz instinktiv auf die gleiche Weise, auf die sich seine Vorfahren schon vor etlichen hundert Millionen Jahren ihrer Gegner erwehrt hatten - blitzartig zog er Kopf und Glieder in seinen Panzer zurück, so daß die schrecklichen Scheren des Insektes auf stahlhartes Horn krachten statt auf Fleisch. Ein Stück davon brach ab, und der Hornkopf fuhr mit einem wütenden Pfeifen zurück.
Eine Sekunde später war Essk über ihm, riß ihn mit einer fast spielerischen Bewegung von ihrem Gefährten herunter und warf ihn kurzerhand gegen die Wand. Der Laut, mit dem sein schwarzglänzender Chitinpanzer gegen den Stein prallte, ließ Tally innerlich erschauern.
Aber der Kampf war noch nicht vorüber. Der Hornkopf stürzte zwar, und er blieb auch einen Moment benommen liegen, aber nur, um sich dann jäh in ein wirbelndes Bündel aus Gliedmaßen und tödlichem Horn zu verwandeln, das mit schier unglaublicher Geschwindigkeit wieder auf den Beinen war und angriff.
Und diesmal galt sein Angriff nicht den beiden Wagas, sondern Tally, die er instinktiv als die wichtigste Gegnerin erkannt haben mußte. Tally sprang zurück, beide Hände über den Kopf geschlagen und den Hals eingezogen, so gut sie konnte, denn sie wußte nur zu gut, auf welche Weise Hornköpfe normalerweise angriffen. Ihre Bewegung war sehr schnell; es war nicht das erste Mal, daß sie mit einem Hornkopf unterschiedlicher Meinung war, was ihre Lebenserwartung anging.
Trotzdem hätte sie keine Chance gehabt, währe Hrhon nicht gewesen. Aber der Waga bewegte sich plötzlich mit einer Behendigkeit, die wohl auch der Hornkopf ihm nicht zugetraut hätte - und Tally schon gar nicht. Als das Rieseninsekt an ihm vorbeiraste, fuhr er hoch und herum und ließ seine Faust auf seinen Panzer herunterkrachen. Der Schlag war auf den häßlichen Schädel gezielt, traf aber statt dessen seinen Hinterleib.
Diesmal zerbrach der Chitinpanzer des Ungeheuers mit einem hörbaren Knirschen.
Das Ungeheuer stieß einen kläglichen Laut aus, torkelte einen halben Schritt an Tally vorbei und fiel wimmernd zu Boden. Seine gewaltigen Scheren schnappten in hifloser Wut.
Essk packte den Hornkopf und öffnete seinen Panzer an einer Stelle, die nicht dafür vorgesehen war. Aus den schrillen Schreien des Rieseninsektes wurde ein gurgelnder Laut. Eine zähe, gelbe Flüssigkeit quoll aus seinem Maul. Seine Glieder zuckten noch einmal, dann erschlaffte es in den gewaltigen Pranken der Waga.
Trotzdem schmetterte Essk ihm die Faust noch zweimal mit aller Kraft zwischen die Augen, ehe sie ihn fallen ließ und mit einem zufriedenen Zischeln zurücktrat und sich umwandte. »Allesss in Ohrdnhung?« fragte sie.
Tally begriff im ersten Moment nicht einmal, daß die Worte ihr galten. Erst, als Essk sie fast schüchtern an der Schulter berührte und ihre Frage wiederholte, riß sie ihren Blick von dem verstümmelten Insekt los und nickte. »Mir ist nichts passiert«, sagte sie. Sie wandte sich an Hrhon. »Aber was ist mit dir?«
»Nichtsss«, erwiderte Hrhon. »Esss war nhurrr die Überasssung.«
Tally blickte auf den zermalmten Hornkopf herunter und glaubte ihm. Das Ungeheuer mußte selbst sie um einen guten Meter überragen, wenn es aufrecht stand, und sie wußte, wie stark Insekten waren. Trotzdem konnte man seinen Angriff auf den Waga nur als glatten Selbstmord bezeichnen.
Mit aller Macht drängte sie ihren Widerwillen zurück, näherte sich dem toten Ungeheuer und ging dicht vor ihm in die Hocke. Ein eisiger Schauer lief über ihren Rücken, als sie die entsetzlichen Beißzangen sah, die dicht unter dem dreieckigen Insektenmaul aus seinem Schädel wuchsen. Sie waren kräftig genug, einem erwachsenen Mann den Oberschenkel durchzubeißen.
Und als wäre dies allein noch nicht genug, verfügte das Ungeheuer über ein ganzes Arsenal weiterer natürlicher Waffen - angefangen von seinen gewaltigen, dornenbewehrten Sprungbeinen über ein paar Dutzend dolchspitzer Stacheln auf seinem Rücken bis hin zu seinem vorderen Beinpaar, mehrfach untergliedert und mit einem Chitinpanzer versehen, der zu einer Art natürlicher Axt zusammengewachsen war.
»Was, beim Schlund ist das?« murmelte sie.
Sie hatte nicht damit gerechnet, aber sie bekam eine Antwort.
»Eine Beterin«, sagte Essk. »Sssehr ghefährlich. Iss dachte, sssie whären ausssgessstorben.«
»Eine... Beterin?« wiederholte Tally verwirrt. Sie hatte von diesen Tieren (Tieren? Etwas in ihr sträubte sich dagegen, dieses Ding wirklich mit dem Wort Tier zu bezeichnen.) gehört, aber auch sie hatte nicht gewußt, daß es sie wirklich noch gab. Beterinnen, das waren irgendwelche Ungeheuer, die in irgendeinem Teil der Welt irgendwann einmal gelebt hatten. Sie vor sich zu sehen, erfüllte sie mit Entsetzen, ganz egal, ob sie nun tot war oder nicht. Und trotzdem wußte sie, daß Essk recht hatte - bei genauem Hinsehen war sogar noch eine Ähnlichkeit zwischen diesem horngepanzerten Ungeheuer und einer Gottesanbeterin zu erkennen, wie Tally sie kannte - wenn auch einer, die etliche zehn Arme zuviel hatte und ganz eindeutig an Größenwahn litt. Aber es war eine Beterin - der langgestreckte, vielfach gegliederte Leib, der entsetzliche dreieckige Schädel, die mächtigen Vorderläufe, das alles war unverkennbar.
»Du hättest sie nicht töten sollen«, sagte sie. »Sie hätte uns wertvolle Auskünfte geben können.« Aber der Tadel in der Stimme war nicht echt. Wie die beiden Wagas wußte sie nur zu genau, daß Hornköpfe durch absolut nichts auf der Welt zu irgend etwas zu zwingen waren, schon gar nicht durch Gewalt oder Folter, und weder Hrhon noch Essk reagierten auch in irgendeiner Weise auf ihre Worte. Als sie sich nach einer Weile aufrichtete und umdrehte, war Hrhon bereits verschwunden, während seine Gefährtin ein Stück vor und neben der Tür Aufstellung genommen hatte, den Kopf halb in den Panzer zurückgezogen und die Hände kampfbereit erhoben.
Aber es erfolgte kein weiterer Angriff mehr. Die Beterin war die letzte, tödliche Überraschung, die der Turm für sie bereitgehalten hatte - wenigstens für diesen Tag.
Hrhon kam schon nach wenigen Augenblicken zurück und machte ein beruhigendes Zeichen mit der Hand. Er bestand nicht einmal mehr darauf, vor ihr herzugehen, als sie durch die Tür trat.
Das erste, was ihr auffiel, war das Geräusch: das gleiche dumpfe Brausen und Rauschen, das sie den gesamten Weg hier herauf begleitet hatte, aber ungleich lauter und machtvoller, so mächtig, daß sie meinte, den Boden unter ihren Füßen in seinem Rhythmus vibrieren zu fühlen, und abermals an ein urgewaltiges Atmen denken mußte. Dann spürte sie den Luftzug, ganz sacht, wie das Streicheln einer kühlen Hand auf der Haut. Er kam von rechts, aus dem Turminneren, und als sie sich in diese Richtung wandte, sah sie einen ganz schwachen Lichtschimmer.
Behutsam bewegte sie sich darauf zu und gelangte an eine weitere nicht gänzlich geschlossene Tür. Ihre Finger zitterten, als sie die Hand danach ausstreckte und sie öffnete, obgleich kein Grund zur Furcht mehr bestand; denn Hrhon war vor ihr hiergewesen und hatte zweifellos auch den angrenzenden Raum gründlich nach Gefahren durchsucht.