Выбрать главу

Überhaupt war dies von allem der stärkste Eindruck: obwohl sie den harten Stein unter ihren Füßen sah und stundenlang darübergeschritten war, wirkte nichts hier künstlich, nichts sah aus, als wäre es irgendwie gemacht worden. Das ganze gigantische Bauwerk wirkte wie gewachsen. Selbst die eiserne Brüstung, auf der sie lehnte, vermochte diesen Eindruck nicht zu stören.

Aber was war es? Was...

Die Erkenntnis traf sie wie ein Fausthieb.

Es war, als träte sie ein zweites Mal auf den Balkon hinaus, aber diesmal mit offenen, sehenden Augen. Mit einem Male war alles ganz klar, ergab einen Sinn - den einzigen Sinn, den es überhaupt geben konnte. Und mit einem Male schien ihr jeder Quadratzentimeter ihrer Umgebung die Wahrheit entgegenzuschreien: dieser gigantische, leere Turm, selbst hier oben an seiner engsten Stelle noch Hunderte von Metern messend, die ungeheuerliche Tiefe, aus der ein Luftstrom wie ein nie endender Orkan emporbrauste, dieser einsamste aller Flecken, den es auf der Welt gab, der vielfach gestaffelte Todeskreis, der ihn umgab, dies alles konnte nur eine einzige Erklärung haben.

Und sie wußte sie, im gleichen Moment, in dem sie den Sturm, der aus der Erde emporbrauste, zum ersten Male bewußt wahrnahm. Und den Gestank, den er mit sich brachte.

Drachengestank.

Sie blieb länger als eine Stunde auf dem kleinen Balkon am Rande des Nichts stehen, ohne es überhaupt zu merken. Sie war wie gelähmt, nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Ihre Gedanken drehten sich im Kreise, immer und immer und immer wieder, ohne daß sie imstande war, ihren Fluß zu ändern, und sie wußte hinterher nicht mehr, was sie nun wirklich gedacht hatte, in all dieser Zeit. Tally konnte nicht in Worte fassen, was sie spürte, weil es etwas Neues war, etwas, wofür sie keine Worte hatte, eine Mischung zwischen Entsetzen und Schrecken und Erleichterung und Schmerz und anderen, fremden Gefühlen. Sie war enttäuscht, so enttäuscht und - ja: gedemütigt - wie niemals zuvor in ihrem Leben, und sie hatte allen Grund dazu. Sie fühlte sich wie ein Mensch, der das eigentlich Unmögliche vollbracht hatte, nur um festzustellen, daß es nichts war: sie hatte einen Berg erstiegen, der als unbesteigbar galt, und auf dem Gipfel angelangt erkannt, daß es in Wahrheit nichts als ein kleiner Hügel war, hinter dem sich das eigentliche Gebirge erhob.

Wozu das alles? dachte sie matt. Bitterkeit begann in ihr aufzusteigen, und für einen Moment kam ihr der Gedanke, daß all dies, die Wüste mit ihren tausendfältigen Fallen und Gefahren, der Turm mit seinen tödlichen Wächtern, nur zu dem einen Zweck errichtet worden sei, Narren wie ihr vor Augen zu führen, wie dumm und machtlos sie waren.

Aber natürlich war dies vollkommener Unsinn. Tatsache war, daß dieser Turm nichts als der erste Schritt war, die erste Stufe einer Treppe, deren Länge sie nicht einmal zu ahnen imstande war, und an deren Ende das wahre Geheimnis der Drachenreiterinnen wartete.

Der Enttäuschung folgte ein Gefühl der Leere, aber es hielt nicht lange an; denn Tally wäre nicht Tally gewesen, hätte sie nicht gleichzeitig eine noch dumpfe, aber rasch wachsende Entschlossenheit gespürt, auch die nächste Stufe des Geheimnisses zu erklimmen, und die nächste und nächste und nächste, für den Rest ihres Lebens, wenn es sein mußte.

Irgendwie ernüchterte sie dieser Gedanke. Der Schmerz in ihrem Inneren sank zu einem dumpfen Druck herab, und mit einem Male wurde sie sich ihrer Umgebung wieder bewußt: sie spürte den eisigen Wind, der ihre Finger und ihr Gesicht allmählich taub werden ließ, und das Sengen der Sonne, die ihre nackten Schultern verbrannte. Nach einem letzten, sehr langen Blick in den Abgrund wandte sie sich um und trat in die Kammer zurück.

Die beiden Wagas erwarteten sie. Hrhon hatte es sich auf dem Teppich bequem gemacht und Kopf und Glieder in seinen Panzer zurückgezogen, um auf die typische Art seines Volkes zu schlafen, während Essk unstet auf und ab ging. Tally sah, daß sie den Raum durchsucht hatte, auf die sehr direkte und sehr wirksame Weise, auf die Wagas alles tun: das Zimmer war vollkommen verwüstet. Aber obwohl der Anblick die Frau in ihr ärgerte, beruhigte er die Kriegerin in ihr: sie konnte jetzt sicher sein, daß es hier keine verborgenen Fallen mehr gab.

Sie bezweifelte allerdings auch, daß es jemals welche gegeben hatte. Die beiden Frauen und ihre chitintragenden Wächter mußten sich vollkommen sicher gefühlt haben. Wäre es nicht so gewesen, hätten sie und die beiden Wagas den Turm niemals lebend erreicht. Dieser Turm war allein durch seine Konstruktion schon eine Festung, die zwei oder drei beherzte Kämpfer gegen ein ganzes Heer halten konnten, wenn es sein mußte.

Tally fühlte sich sonderbar bei dem Gedanken, daß Hrhon, Essk und sie wahrscheinlich die ersten lebenden Wesen waren, die diesen Turm gegen den Willen seiner Erbauer betreten hatten. Es war kein Triumph in diesem Gefühl - sie hatten Glück gehabt, das war alles, eine unglaubliche Kombination von Zufall, Glück und sicherlich auch Mut und Kraft der Waga.

»Wasss sssollen wir thuhn?« drang Essks Stimme in ihre Gedanken. »Gehen wir sssurühck?«

Tally überlegte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf, schenkte der Waga ein müdes Lächeln und ließ sich mit einem erschöpften Seufzer auf dem nieder, was Essk vom Bett übriggelassen hatte. »Nein«, sagte sie. »Wir bleiben.«

Essk widersprach nicht, und Tally glaubte sogar so etwas wie Zustimmung auf ihrem starren Schildkrötengesicht zu erkennen. Sie begriff, daß selbst die beiden Waga an den Grenzen ihrer Kraft angelangt waren. Sie hatten die Hauptlast der Mühen und Anstrengungen getragen, die die letzten Tage gebracht hatten. Essks Frage war wohl nur rhetorischer Natur gewesen. Es war zu spät, noch an diesem Tage zurückzugehen; denn obwohl der Himmel über dem Turm noch immer in Flammen zu stehen schien, würde die Sonne in einer Stunde untergehen.

Überdies gab es keinen Grund, überhaupt zurückzugehen. Sie konnten die Nacht ebensogut hier verbringen wie in dem Keller im Nebengebäude, und etwas in Tally weigerte sich auch, jetzt einfach kehrtzumachen, ohne das Geheimnis des Turmes wirklich gelöst zu haben.

Müde ließ sie sich in die seidenen Kissen zurücksinken, schloß die Augen und gähnte herzhaft. Ihre Beine schienen mit einem Male mit Blei gefüllt zu sein, und jetzt, als die Anspannung von ihr abzufallen begann, machten sich Müdigkeit und Schwäche auf wohltuende Weise in ihr breit.

»Ihr habt alles gründlich durchsucht?« murmelte sie, schon halb eingeschlafen.

»Sssicher«, zischelte Essk. »Ihr könnt beruuuhigt ssslafen, Herrin.«

Und genau das tat Tally auch.

~ 7 ~

Ihre Geduld wurde auf keine sehr harte Probe mehr gestellt. Nach zehn Jahren hatte das Schicksal endlich ein Einsehen mit ihr; ja, sie mußte nicht einmal mehr zehn Tage warten, sondern wenig mehr als einen und ein paar Stunden. Aber natürlich wußte sie das nicht, als sie am nächsten Morgen erwachte, und als Essk sie beinahe sanft an der Schulter berührte und schüttelte - zumindest sanft für die Begriffe einer Waga -, fuhr sie mit einer hastigen Bewegung hoch und griff ganz instinktiv nach ihrem Schwert. Erst dann begriff sie vollends, wo sie war. Unwillig schlug sie Essks Hand beiseite, setzte sich mit einem Ruck auf und verlor in den weichen Kissen prompt die Balance. Essk machte eine Bewegung, als wollte sie sie auffangen, besann sich im letzten Moment eines Besseren und zog die Hand hastig wieder zurück; möglicherweise aus Furcht, sie zu verlieren.