Tally schenkte ihr einen bösem Blick, richtete sich mühsam auf und sah sich nach irgend etwas um, worauf sie ihren Zorn entladen konnte.
Sie fand es in Gestalt des zweiten Waga, der in diesem Augenblick durch die turmaufwärts führende Tür hereinkam, beide Arme mit Waffen und allerlei Gerätschaften beladen und hörbar schnaufend vor Anstrengung - was allerdings kaum auf das Gewicht seiner Last, sondern wohl eher auf die Treppenstufen zurückzuführen war, die er sich auf seinen unbeholfenen Beinen hinauf- und wieder hinabgequält hatte.
Normalerweise hätte der Anblick Tally amüsiert. Aber sie hatte auf den ungewohnt weichen Kissen schlecht geschlafen, und natürlich hatte sie geträumt, und nicht unbedingt etwas, woran sie sich gerne erinnerte.
»Was, beim Schlund, treibst du da, du Fischgesicht?« fauchte sie. »Wer hat dir befohlen, den Turm zu plündern?«
Hrhon sah sie eindeutig betroffen an, lud seine Last auf das kleine Tischchen neben der Tür ab und breitete verlegen die Arme aus. »Isss dachte...«, begann er, wurde aber sofort von Tally unterbrochen:
»Genau das ist dein Fehler, Hrhon«, sagte sie übellaunig. »Ist dir schon einmal aufgefallen, daß jeder Satz, den du mit den Worten: ich dachte beginnst, in einer Katastrophe endet?«
Hrhon war klug genug, nicht darauf zu antworten, und Tally wischte sich mit einer fahrigen Geste endgültig den letzten Schlaf aus den Augen und trat an ihm vorbei an den Tisch, um seine Beute zu begutachten.
Es handelte sich zum allergrößten Teil um Waffen - Schwerter, Dolche, Bögen und ein paar Tally unbekannte, aber sehr unangenehm aussehende Dinge, die sie nicht einmal in die Hand hätte nehmen können, ohne Gefahr zu laufen, ein paar Finger zu verlieren. Aber es gab auch zwei der kleineren, fremdartigen Waffen, wie sie die beiden toten Frauen getragen hatten, und etwas, das wie ein Blasrohr aussah, dessen hinteres Ende mit einer Stütze versehen war, welche sich genau ihrer Schulter anpaßte. Tally dachte an das kopfgroße Loch, das die Waffe der Fremden unten im Nebenhaus in die Mauer geschlagen hatte, und legte das Rohr vorsichtig wieder aus der Hand.
»Woher hast du das alles?« fragte sie.
»Esss gibt eine Waffenkammer«, antwortete Hrhon. »Dha issst nhoch mehrrr.«
Seine Worte überraschten Tally nicht sehr. Auch, wenn nur ein winziger Teil wirklich bewohnbar war - der Turm war gigantisch; groß genug, Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschen zu beherbergen - warum also sollte es nicht auch Waffen für Hunderte von Menschen geben? Aber sie erschreckten sie; denn es erschien ihr ziemlich sinnlos, all diese Waffen hier anzuhäufen, wenn sie niemals benutzt werden sollten.
Möglicherweise - nur möglicherweise, aber allein der Gedanke ließ sie frösteln - war es wirklich nur ein Zufall, daß sie den Turm so leer vorgefunden hatten.
Und möglicherweise befanden sich die Besitzer all dieser stechenden und schneidenden Scheußlichkeiten bereits auf dem Weg hierher...
Sie verscheuchte den Gedanken, drehte sich mit einem Ruck vom Tisch weg und befahl Hrhon, ihr die Waffenkammer zu zeigen.
Der Waga hatte nicht übertrieben - die Waffenkammer war groß genug, eine ganze Armee auszurüsten, und nur sehr wenig von dem, was sie enthielt, war in schlechtem Zustand. Natürlich war es möglich, daß die beiden Frauen oder die Hornköpfe diese Arbeit getan hatten, schon um sich die Zeit zu vertreiben, aber das hielt Tally für nicht sehr wahrscheinlich. Aber sie behielt ihre Befürchtungen - zumindest im Moment noch - für sich, und befahl Hrhon knapp, ihr den Rest der Zimmer zu zeigen, die die beiden Frauen und ihre Kampfinsekten bewohnt hatten.
Es waren mehr, als sie erwartet hatte; im Inneren des steinernen Schwalbennestes verbarg sich ein wahres Labyrinth von Räumen - drei, vielleicht vier Dutzend Kammern unterschiedlicher Größe, von denen die meisten leer standen und seit endlosen Jahren nicht mehr benutzt worden waren, wie die dicke Staubschicht auf dem Boden bewies, aber der verbliebene Rest war noch immer gewaltig, und er war mit einem Luxus und Überfluß ausgestattet, wie ihn Tally nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Sie wurde es bald müde, all die Reichtümer und Kostbarkeiten zu zählen, die sie sah, und die fremdartigen Dinge und Gerätschaften zu bestaunen, die sie niemals zuvor erblickt hatte und deren Sinn ihr verborgen blieb. Nur eines war ihr schon nach kurzer Zeit klar: die beiden Frauen hatten wie die Könige hier gelebt - und sie waren nicht allein gewesen, jedenfalls nicht immer. Außer den Schlafzimmern der beiden Frauen gab es noch ein halbes Dutzend weiterer, kostbar ausgestatteter Gemächer, die Spuren häufiger Benutzung zeigten, und Kleider in den unterschiedlichsten Größen, die weder dem Mädchen noch der älteren Frau gepaßt haben konnten.
Nur eines fand sie nicht, so intensiv sie danach suchte - einen Hinweis auf die Herkunft der beiden Frauen. Sie fand Karten - Hunderte von Karten, säuberlich zusammengerollt und in einem deckenhohen Regal aufbewahrt -, Karten von Ländern und Städten, die sie kannte, anderen, von denen sie gehört hatte und sehr vielen, auf die keines von beiden zutraf. Aber was nutzten ihr die genauesten Karten, wenn sie nicht wußte, was sie zeigten, und die ausführlichsten und besten Bücher - von denen es gleich Tausende gab - wenn sie allesamt in einer Sprache abgefaßt waren, die sie nicht lesen konnte?
Tallys Enttäuschung nahm zu, je mehr Zeit sie damit verbrachte, die Zimmer zu durchsuchen, und zugleich wuchs auch ihr Zorn. Sie fühlte sich genarrt. Wozu hatte sie all dies auf sich genommen, wenn sie jetzt nichts mit dem Preis ihrer Mühen anfangen konnte?
Es wurde Mittag, bis sie die Räumlichkeiten auch nur flüchtig durchsucht hatten, und die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten und die zweite Hälfte ihrer Tageswanderung begonnen, als sie die Plattform an ihrem oberen Ende erreichten.
Tally zögerte unmerklich, das steinerne gut zehn mal fünfzehn Schritte messende Rechteck zu getreten; denn anders als auf dem kleinen Balkon im Turminneren gab es hier kein Geländer, sondern nur eine willkürlich gezogene Kante, hinter der ein meilentiefer Abgrund lauerte.
Wären die beiden Wagas nicht gewesen, und das absurde Gefühl, in ihrer Gegenwart keine Schwäche zeigen zu dürfen, hätte sie wahrscheinlich auf der Stelle kehrt gemacht. Der Wind zerrte hier oben mit Macht an ihr, und für einen Moment hatte Tally das Gefühl, den ganzen gigantischen Turm wie ein dünnes Schilfrohr unter ihren Füßen schwanken zu spüren.
Hrhon deutete auf eine gut mannshohe Konstruktion, die aus der Mitte der Plattform herauswuchs und das Sonnenlicht reflektierte. »Dhass habhe isss entdeckt«, lispelte er. »Abher isss weisss nichht, wasss esss issst.«
Tally sah den Waga fragend an, runzelte die Stirn und näherte sich dem sonderbaren Gebilde vorsichtig; so vorsichtig, wie man sich in einer feindseligen Umgebung nun einmal einem Ding näherte, von dem man nicht wußte, was es war, das aber - gelinde ausgedrückt - sonderbar aussah.
Das Gebilde war etwas größer als ein normal gewachsener Mann und stand auf drei lächerlich dünnen, mehrfach untergliederten Storchenbeinen aus Metall. Auf den allerersten Blick erinnerte es Tally an eine flache Schüssel, die auf die Kante gestellt worden war, nur daß ihre Innenseite nicht glatt war, sondern aus Tausenden und Abertausenden kleiner dreieckiger Spiegelscherben bestand, die man so angeordnet hatte, daß sie das Sonnenlicht einfingen und auf einen ganz bestimmten Punkt konzentrierten.
Tally hatte etwas Ähnliches sogar schon einmal gesehen, auch wenn es sehr sehr lange her war: mehr als fünfzehn Jahre, in Stahldorf, ihrem Geburtsort. Damals hatte einer der Männer versucht, einen Spiegel zu bauen, mit dem er das Sonnenlicht bündeln konnte, um auf diese Weise genug Hitze zu erzeugen, Eisen zu schmelzen. Das einzige Ergebnis seiner Bemühungen waren genug Brandblasen für den Rest seines Lebens gewesen, und der Umstand, daß die ganze Stadt über ihn gelacht hatte - aber die Konstruktion damals hatte dieser hier doch sehr geähnelt, nur daß das Gebilde, das Tally jetzt betrachtete, viel graziler und gleichzeitig perfekter aussah. Aber wozu mochte es dienen?