Vorsichtig umrundete Tally das stählerne Dreibein, hob die Hand und fuhr sacht mit den Fingerspitzen über die Spiegelfläche. Sie fühlte sich kalt an, obwohl die Sonne mit Macht vom Himmel schien und ihre Augen allein vom Hinsehen schmerzten. Tally überlegte einen Moment, dann gebot sie Hrhon und Essk mit einer knappen Geste, zurückzubleiben, und zog ihren Dolch aus dem Gürtel. Sie riß ein Stück aus dem Verband, der ihren Oberschenkel zierte, wickelte den Stoff locker um die Klinge und führte die Waffe am ausgestreckten Arm vor dem Spiegel entlang.
»Wasss thut Ihr?« erkundigte sich Essk.
Tally lächelte. »Paß auf«, sagte sie. »Gleich beginnt der Stoff zu brennen!«
Essk stieß ein verwundertes Zischeln aus und kam neugierig näher, und auch Hrhon trippelte ungeschickt um den Riesenspiegel herum und beugte sich vor.
Nichts geschah. Tally führte den Dolch mit langsamen Kreisbewegungen vor dem gesamten Spiegel entlang, an jeder nur möglichen Stelle, an der das Sonnenlicht gebündelt werden konnte, aber der Stoff begann nicht einmal zu qualmen, geschweige denn zu brennen. Hrhon und Essk waren klug genug, keinen Laut von sich zu geben, aber Tally entgingen die bezeichnenden Blicke keineswegs, die sie sich zuwarfen, und aus ihrer anfänglichen Enttäuschung wurde Ärger, dann Wut. Zornig warf sie den Dolch zu Boden, hob die Hand und führte die Finger vor dem Spiegel entlang.
Nichts. Sie spürte nicht einmal Wärme, obwohl der Spiegel ganz genau auf die Sonne ausgerichtet war.
»Dha issst ein Sssatten«, sagte Essk plötzlich.
Tally sah auf, blickte die Waga verärgert an und ließ die Hand sinken. »Wo?«
Essk deutete nach Westen, in die Wüste hinaus. »Dort«, antwortete sie. »Jessstisster fhort. Ahber gherade whar ein Sssatten dha.«
Tally blickte einen Moment lang in die Wüste hinaus. Sie konnte nichts anderes sehen als die endlosen braungelben Sandwogender Gehran, aber sie wußte, daß Essk sich nicht getäuscht hatte. Wenn sie behauptete, einen Schatten gesehen zu haben, dann hatte sie einen Schatten gesehen.
Tallys Ärger machte von einer Sekunde auf die andere Erregung Platz. »Was war es?« fragte sie. »Ein Reiter?«
Essk versuchte ein Kopfschütteln zu imitieren und verlor dabei fast das Gleichgewicht. »Nein«, sagte sie. »Etwasss Grosssesss. Sssehr gros.«
Für den Bruchteil einer Sekunde sah Tally gigantische Schwingen, auf denen der Tod ritt. Aber wirklich nur für eine Sekunde - die beiden Wagas wußten zehnmal besser als sie, wie die Drachen aussahen.
»Esss verssschwand, alsss Ihr...« begann Essk, brach dann plötzlich ab und hob mühsam den Arm in Kopfhöhe.
Ihre dreifingrige Hand huschte ungeschickt über den Spiegel.
Fünf Meilen westlich des Turms erschien ein gigantisches finsteres Etwas über der Wüste.
»Beim Schlund!« keuchte Tally. »Was...«
Essk ließ die Hand sinken, stieß einen zischelnden, verwunderten Laut aus und hob abermals den Arm.
Wieder erschien der Schatten über der Wüste, riesig, schwarz, zitternd und mit verschwommenen Rändern, die zu pulsieren schienen - aber es war eindeutig der Schatten einer Hand; einer gigantischen, dreifingrigen Hand, so kompakt und plump, daß sie beinahe verkrüppelt wirkte.
Tally fuhr herum, stieß Essk grob beiseite und hob selbst noch einmal die Hand vor den Spiegel.
Ihr Schatten erschien fünf Meilen weiter im Westen, zehntausendfach vergrößert und flackernd, ein gigantischer Dämon, der aus dem Nichts kam und selbst einen Schatten warf, der wie eine riesige fünfbeinige Spinne über die Dünentäler und -kämme kroch, eine Meile groß.
Und plötzlich begriff Tally.
Eine Sekunde lang lähmte sie der Gedanke, denn wenn ihre Vermutung stimmte, dann...
Langsam, ganz langsam, als müsse sie gegen einen unsichtbaren zähen Widerstand ankämpfen, ließ sie die Hand sinken, sah dem Erlöschen des Riesenschattens zu und drehte sich zu Hrhon um.
»Die Karten«, sagte sie. »Geh hinunter und hol' mir ein paar von den Karten, Hrhon. Schnell.«
Das Sprechen fiel ihr schwer. Ihr Verdacht war kein Verdacht mehr, sondern Gewißheit - es war alles so klar und einleuchtend, daß es einfach keine andere Erklärung geben konnte. Aber etwas in ihr weigerte sich einfach, sie als wahr anzuerkennen, denn wenn sie es täte, müßte sie gleichzeitig zugeben, daß alles noch viel sinnloser gewesen war, als sie bisher geglaubt hatte.
Während sie darauf wartete, daß Hrhon zurückkehrte, untersuchte sie die Spiegelkonstruktion eingehender. Es gab eine Menge Dinge, die sie nicht verstand - Dutzende von Schrauben und Hebeln, mit denen der Spiegel in jede nur denkbare Richtung und Lage gedreht werden konnte, und sehr dicke Glasscheiben, die auf sonderbare Weise geschliffen waren, so daß sie alles verzerrten, was dahinter lag. Unmittelbar unter und vor dem Spiegel selbst gab es eine Art kleines Tischchen, das aus zwei metergroßen Kristallscheiben bestand, zwischen denen ein fingerbreiter Spalt war. Vorsichtig nahm sie ihren Dolch, schob die Klinge zwischen die beiden Scheiben und blickte nach Westen. Irgend etwas Riesiges, Finsteres huschte über die Dünen und verschwand, als sie die Waffe hastig zurückzog.
»Wasss isst dass, Herrin?« erkundigte sich Essk neugierig. »Sssauberei?«
Tally schüttelte zornig den Kopf. »Nein« sagte sie. »Etwas, das schlimmer ist, Essk.«
Wütend stand sie auf, schob den Dolch in den Gürtel zurück und sah sich ungeduldig nach Hrhon um. »Warte, bis Hrhon kommt«, sagte sie. »Dann zeige ich es dir.«
Aber anders als gewohnt nahm Essk ihren Befehl nicht stumm hin, sondern wich ein ganz kleines Stück von der Spiegelkonstruktion zurück. »Esss ghefällt mir nissst«, zischelte sie. »Bössse Magie.«
»Es ist keine Zauberei, du Flachkopf«, sagte Tally ärgerlich. Sie mußte sich mit aller Macht beherrschen, ihren Zorn nicht auf die Wagas abzuladen. Der Gedanke an das, was sie vor sich hatte - und das, was es bedeutete! - trieb sie fast in den Wahnsinn.
Aber Essk beharrte auf ihrem Standpunkt. »Bössse Magie«, behauptete sie. »Isss sphüre esss. Esss mhacht mir Angssst. Nhur Magie macht Angssst.«
Tally wollte auffahren, blickte die Waga aber statt dessen nur mit einer Mischung aus Zorn und Betroffenheit an.
Essk redete Unsinn - diese was-immer-es-war hatte ganz eindeutig nichts mit Magie zu tun. Und doch hatte sie vielleicht recht. Wenn auch auf eine gänzlich andere Art, als sie selbst ahnen mochte.
Es dauerte lange, bis Hrhon zurückkam. Tally bedauerte fast, nicht selbst hinuntergegangen zu sein, um die Karten zu holen; denn selbst ein Waga, der rannte, bewegte sich noch zu langsam. Zugleich aber hatte sie fast Angst vor dem Moment, in dem er zurückkam; denn wenn sich ihr Verdacht bestätigte, wenn sie sich selbst bewies, daß sie recht hatte, wie sollte sie dann noch leugnen, was nicht wahr sein durfte?
Als der Waga schließlich kam, beide Arme mit den säuberlich zusammengerollten Karten beladen, zögerte sie fast, ihm seine Last abzunehmen. Ihre Finger zitterten vor Aufregung, als sie eine der Pergamentrollen an sich nahm und das dünne Lederband löste, mit dem es verknotet war.
Vorhin, als sie diese Karten zum ersten Male in Händen gehalten hatte, waren sie ihr fast sinnlos erschienen, aber plötzlich bekam alles, was ihr so sonderbar vorgekommen war, eine entsetzliche Bedeutung: das Pergament, das so dünn war, daß das Licht hindurch schien, die verwirrenden Linien und Umrisse, mit dünnen, zitterig wirkenden, blutroten Strichen gemalt, die fremdartigen Schriftzeichen und Symbole...
Sie drängte das Entsetzen zurück, das von ihr Besitz ergreifen wollte, wandte sich mit einem Ruck um und schob die Karte zwischen die beiden Glasplatten.