Draußen über der Wüste erschien ihr Spiegelbild, zehntausendfach vergrößert, und mit einem Male waren die Linien nicht mehr zitterig und unsicher, sondern Flammen, haushohe, lodernd-rote Flammen, mit denen die Götter ihre Befehle an den Himmel schrieben, waren winzige Punkte Flecke zu Bergen und Städten geworden, kaum wahrnehmbare Linien zu flammenden Küsten, die Schriftzeichen, die ihr so fremd und gleichzeitig bekannt erschienen waren, spiegelbildlich verkehrt, Worte in Flammenschrift.
Lüge! hämmerten ihre Gedanken. Alles war Lüge! Von Anfang an! Sie hatten sie belogen! Sie hatten Hraban belogen, seine Vorgänger, sie selbst. Lüge, Lüge, Lüge! Es gab keine Götter. Es hatte sie niemals gegeben. Es gab nur diesen Betrug, eine gigantische, ungeheuerliche Lüge, einen Betrug an einer ganzen Welt, der so zynisch war, daß sich etwas in Tally selbst jetzt noch weigerte, ihn als wahr zu akzeptieren.
Die Erkenntnis traf sie mit einer solchen Wucht, daß sie schwankte und haltsuchend nach dem Spiegel griff.
Eine schwarze Spinne huschte über die Flammenschrift der Götter draußen in der Wüste und löschte sie aus.
Und irgend etwas geschah mit Tally, in diesem Moment. Was sie für Entsetzen gehalten hatte, war in Wahrheit Zorn, ein so heißer, wütender Zorn, daß sie ihn als echten körperlichen Schmerz spürte, wie einen Krampf, der jede einzelne Faser ihres Körpers zusammenzog. Sie schrie auf, riß das Schwert aus dem Gürtel und schwang die Waffe mit beiden Händen über dem Kopf. Hrhon und Essk brachten sich mit grotesk anmutenden Hüpfern in Sicherheit, als die Klinge mit furchtbarer Wucht auf die Spiegelkonstruktion herunterkrachte.
Das Gebilde zerbarst schon beim ersten Hieb, aber Tally schlug weiter und weiter auf seine Überreste ein, immer und immer wieder, bis das stählerne Dreibein verbogen und zerbrochen vor ihr lag und von dem Spiegel nichts mehr übrig war als zahllose Splitter, wie glitzernde Tränen auf der Plattform verteilt. Aber selbst dann tobte Tally noch weiter, bis sie einfach nicht mehr die Kraft hatte, das Schwert zu heben, und erschöpft auf die Knie sank.
Sie spürte kaum mehr, wie Hrhon sie nach einer Weile fast sanft am Arm in die Höhe zog und zurück in den Turm führte.
»Eine Maschine!« Tally ballte in hilflosem Zorn die Faust, schlug sich in die geöffnete Linke und sprang auf. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, irgend etwas zu zerstören; etwas zu packen und zu zerschlagen, irgend etwas, das ihnen gehörte, und am liebsten einen von ihnen selbst, wer immer sie sein mochten. Zornig fuhr sie herum und versetzte dem Stuhl, auf dem sie gerade noch gesessen hatte, einen so wuchtigen Tritt, daß er quer durch die Kammer flog und an der gegenüberliegenden Wand zerbrach. Ihre Wut sank dadurch um keinen Deut; ganz im Gegenteil fühlte sie sich eher noch hilfloser - und zorniger - als zuvor.
Es war dunkel geworden. Tally hatte den Rest des Tages im Inneren des Turmes verbracht, zum Teil mit dumpfem vor-sich-Hinbrüten und zum Teil mit etwas, das ihrem Naturell weitaus mehr entsprach: mit Toben.
Selbst die beiden Wagas, die ihre Wutanfälle seit mehr als einem Jahrzehnt gewohnt waren, hatten viel von ihrer stoischen Ruhe verloren und wurden zusehends nervöser. Vor einer Weile hatte Hrhon den Raum verlassen, um - wie er gesagt hatte - oben auf dem Turm nach dem Rechten zu sehen. Tally wußte nicht, was es dort oben außer dem Nachthimmel zu sehen gab, aber sie wußte auch, daß es nur eine Ausflucht des Waga war - nein, in Wahrheit hatte sich Hrhon zurückgezogen, weil er sie noch niemals in einem Zustand wie jetzt erlebt hatte. Genau genommen hatte das niemand, nicht einmal Tally selbst, und hätte sie noch genug Selbstbeherrschung besessen, es überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, wäre sie wahrscheinlich vor sich selbst erschrocken.
Aber sie konnte nicht anders als so reagieren, zum einen, weil sie nicht Tally gewesen wäre, hätte sie ihrem Zorn nicht Luft gemacht, und zum anderen, weil sie wahrscheinlich den Verstand verloren hätte, hätte sie sich ruhig hingesetzt und über die Konsequenzen ihres Fundes nachgedacht.
Eine Maschine! Die Götterschrift am Himmel war nichts als das Werk einer Maschine gewesen! Wieder spürte sie Wut, eine unbezwingbare, kochende Wut, zum vielleicht hundertsten Male, seit sie den Spiegel entdeckt hatten, aber so heiß wie beim allerersten Mal.
Diesmal war es der Tisch, den sie zerschlug.
»Wenn Ihr ssso wheithermacht«, sagte Essk, »wherdet Ihr auhf dem Bodhen ssslafen müssen.«
Tally fuhr herum, die Hand gehoben, um die Waga zu schlagen. Aber sie führte die Bewegung nicht zu Ende, als sie begriff, daß Essks Worte nicht spöttisch gemeint waren. Sie wußte nicht, ob ein Waga überhaupt wußte, was das Wort Humor oder gar Sarkasmus überhaupt bedeutete - Essk jedenfalls meinte genau das, was sie sagte, und sie hatte recht damit. Wütend ließ sie den Arm sinken, drehte sich herum und versetzte den Überresten des Tisches einen Tritt.
»Issst esss ssso ssslimm?« lispelte Essk.
»Schlimm?« Tally schnaubte. »Schlimm?« wiederholte sie. Essks Frage kam reichlich spät - nach Stunden, die sie nichts anderes getan hatte, als zu Toben und Schreien. Außerdem wußte sie keine wirkliche Antwort darauf. War es schlimm? Nein, schlimm nicht. Es war... es war unvorstellbar. Es war grausam und höhnisch und zynischer als alles, was sie sich vorstellen konnte. Und wer immer dafür verantwortlich war, er würde dafür bezahlen.
»Es war eine Maschine, Essk«, sagte sie schließlich. »Begreifst du nicht? Hrabans Götterschrift war nichts als das Werk eines albernen Spiegels!«
»Ich weisss«, lispelte die Waga. »Bössse Magie.«
»Nenn es, wie du willst, du Fischgesicht, aber es war eine Maschine«, fauchte Tally. »Begreifst du nicht, was das bedeutet? Dieses... dieses Ding. Dieser verdammte Turm hier. Diese Waffe!« Sie ließ die Hand auf die Waffe der Toten klatschen, die sie noch immer im Gürtel trug.
Welche Närrin war sie doch gewesen! dachte sie. Schon der Anblick dieses schrecklichen Dinges, das wie ein Kinderspielzeug aussah und kopfgroße Löcher in massiven Fels brannte, hätte ihr die Augen öffnen müssen.
»Wasss issst ssso ssslimm dharhan?« fragte Essk ruhig.
»Was daran schlimm ist?« Tally unterdrückte im letzten Moment einen Schrei. »Begreifst du das wirklich nicht, Essk?« fragte sie. Erregt trat sie auf Essk zu, packte sie bei den Schultern und versuchte vergeblich, ihre vierhundert Pfund zu schütteln. »Sie... sie haben meine Stadt niedergebrannt, weil wir Stahl geschmolzen haben! Wir haben Städte vernichtet, weil ihre Menschen eine harmlose Wassermühle bauten, nur um etwas weniger Arbeit zu haben! Wir haben ganze Völker ausgelöscht, weil sie Maschinen gebaut haben! Seit... seit zehn Jahren bin ich eure Führerin, und seit zehn Jahren sorge ich dafür, daß auf dieser Welt niemals Maschinen erfunden werden! Und die, für die ich es tue, benutzen sie selbst!«
Bei den letzten Worten hatte sie wieder geschrien, aber die Waga schien ihren Zorn gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Zumindest verstand sie ihn nicht. »Dasss issst logisch«, antwortete sie ruhig. »Sssie thun esss, weil sssie sssie fürchten. Und man fürchtet nichtsss, dasss man nicht khennt.«
»Natürlich!« fauchte Tally. »Aber ich...« Sie brach mitten im Wort ab, starrte die Waga mit großen Augen an und trat einen halben Schritt zurück. »Was... was hast du gesagt?« murmelte sie.
»Dasss sssie sssie fürchten«, wiederholte Essk.
»Und man fürchtet nichts, was man nicht kennt«, fügte Tally leise hinzu. Für einen Moment wich ihr Zorn einer tiefen, mit Entsetzen gepaarten Verwirrung.