»Du... du hast es gewußt«, murmelte sie.
»Nicht gewussst«, antwortete Essk. »Aber gheahnt. Esss issst logisch.«
»Aber... aber warum hast du niemals... niemals etwas gesagt?« stammelte Tally. »Oder Hrhon?«
»Ihr habt nicht ghefragt«, antwortete Essk ruhig.
Tally starrte sie an. Sie wollte irgend etwas sagen, etwas tun - aber sie konnte es nicht. Seit fünfzehn Jahren kannte sie die beiden Wagas, aber sie hatte tatsächlich niemals auch nur ein persönliches Wort mit ihnen gewechselt, zumindest nicht mehr seit der Zeit, seit sie Hrabans Frau und wenig später seine Witwe und Nachfolgerin geworden war. Für sie - wie für übrigens alle anderen Mitglieder der Sippe auch - waren die beiden Wagas nur große, sehr zuverlässige und sehr starke Diener gewesen, im Grunde selbst nicht viel mehr als Maschinen, auf die man sich verließ, denen man aber keine eigene Persönlichkeit zubilligte.
Tally hatte plötzlich ein starkes Gefühl von Scham.
Wäre der Sandsturm nicht gewesen, dann würde sie Essk und Hrhon noch jetzt als nichts anderes als Sklaven behandeln. Sie fragte sich, wie viel Dinge noch so offensichtlich vor ihrer Nase herumliegen mochten, ohne daß sie sie bisher auch nur bemerkt hatte.
»Und es war euch... egal?« fragte sie stockend. »All die Toten, all die verwüsteten Städte und Länder... das alles war euch gleich?«
»Esss isst Euer Krieg«, antwortete Essk gleichmütig. »Nhur Mensssen bauen Masssinen. Und nhur Mensssen thöten Mensssen ohne Grund.«
Tally starrte sie betroffen an. Und plötzlich war sie es, die sich als die Unterlegene vorkam. Aus den Worten der Waga sprach eine solche Weisheit, daß sie sich für einen Moment allen Ernstes fragte, wer von ihnen nun das Tier und wer die überlegene Rasse der Schöpfung war.
Aber dann meldete sich in ihr wieder die alte Tally und machte ihr klar, daß sie mit einer fischgesichtigen Waga sprach, die vor ein paar hundert Jahren aus einem Bau gekrochen und im Schlamm aufgewachsen war, bis sie auf Menschen traf, die ihr Sprechen und Denken beigebracht hatten. Essk war uralt und hatte vor Tally Hraban und vor Hraban schon einem Dutzend anderen gedient, und wahrscheinlich hatte sie diesen Unsinn irgendwann einmal aufgeschnappt und sich gemerkt, um ihn im richtigen Moment anzubringen.
Hrhons Rückkehr bewahrte Essk vor der verletzenden Antwort, die Tally auf der Zunge lag. Der Waga polterte lautstark die Treppe herunter, und obwohl sein Gesicht weiterhin ausdruckslos wie ein alter Schuh blieb, spürte Tally sofort die Erregung, die von ihm Besitz ergriffen hatte. »Jhemand khommt!« keuchte er.
»Jemand?« Tallys Hand glitt zum Schwert, ohne daß sie es auch nur bemerkte. »Wer? Wo?«
Hrhon machte eine ungeschickte Geste nach oben.
»Dort. Drei. Vhielleicht vhier. Ich khonnte nicht ghenau sssehen, was...«
Tally hörte nicht mehr, was Hrhon nicht genau hatte sehen können, denn sie war bereits an ihm vorbei, und rannte, immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.
Keuchend erreichte sie die kleine Plattform am abgebrochenen oberen Ende des Turmes, blieb stehen und richtete den Blick nach Norden.
Es waren drei. Sie waren noch weit entfernt, zahllose Meilen, und so hoch, daß sie nur als winzige dunkle Punkte vor dem nicht ganz so dunklen Blau des Nachthimmels auszumachen waren, und auch das eigentlich nur, weil sie sich bewegten. Das Schlagen ihrer gigantischen schwarzen Schwingen war nicht mehr als ein Flackern, das dumpfe Rauschen und der durchdringende Drachengestank existierten nur in Tallys Phantasie, und die krächzenden Schreie, die sie zu hören glaubte, waren ihre eigenen, keuchenden Atemzüge.
Sie kamen! Sie würde sie sehen, nicht als verschwommene Schatten in der Nacht, nicht als schwarze Drohung, die nur zu ahnen und nicht wirklich zu erkennen war, sondern unmittelbar. Sie würde einer von ihnen gegenüberstehen, Auge in Auge.
Tallys Handflächen wurden feucht vor Schweiß. Ihr Herz schlug plötzlich sehr langsam, aber so schwer wie ein Hammerwerk. Wieder glitt ihre Hand zum Schwert und schmiegte sich um den lederumwickelten Griff, aber diesmal war es, als müsse sie sich daran festhalten, um nicht vollends die Verbindung zur Wirklichkeit zu verlieren. Für einen Moment begannen die Umrisse der drei Drachen vor ihren Augen zu verschwimmen. Wie lange hatte sie auf diesen Augenblick gewartet? Jahre? Zehn Jahre mindestens, seit dem Tage, an dem Hraban sie das erste Mal mit hierher in die Wüste genommen und sie das Geheimnis der Flammenschrift kennengelernt hatte.
Aber in Wahrheit war es wohl weit mehr. Im Grunde hatte sie jede Sekunde der letzten fünfzehn Jahre auf diesen Augenblick gewartet, jeden Atemzug, den sie getan hatte, seit jener Nacht, als sie aus dem Wald trat und die verbrannte Stadt ihrer Kindheit unter sich liegen sah. Im Grunde war keine Sekunde in all diesen Jahren vergangen, in der sie nicht für ihre Rache gelebt hatte.
Und jetzt würde sie sie vollziehen.
Einer der beiden Wagas trat schnaubend hinter ihr auf die Plattform, und als sie sich umwandte, erkannte sie Hrhon. In der Dunkelheit war er nicht mehr als ein massiger schwarzer Schatten, in dem nur die Augen von glitzerndem Leben erfüllt waren. Aber sein Erscheinen riß Tally abrupt in die Wirklichkeit zurück. Plötzlich wurde sie sich des eigenen Umstandes bewußt, daß vielleicht mehr dazu gehörte, Rache zu nehmen, als dazustehen und zu warten, daß ihre Feinde eintrafen - wie zum Beispiel die Kleinigkeit, dieses Eintreffen auch zu überleben...
»Zurück«, befahl sie grob. »Wir müssen uns irgendwo verstecken. Rasch jetzt - sie werden gleich da sein.«
Hrhon gehorchte schweigend, aber bevor er sich umdrehte, warf er noch einen letzten Blick auf die drei gigantischen schwarzen Schatten am Himmel, die sich dem Turm näherten. Tally war sich der Tatsache durchaus bewußt, daß es vollkommen unmöglich war - aber für einen kurzen Moment war sie vollkommen sicher, auf dem Gesicht des Waga einen Ausdruck nackter Angst zu sehen.
Sie verscheuchte den Gedanken, gab Hrhon einen unsanften Stoß in den Rücken und hetzte hinter ihm die Treppe hinunter.
Sie waren wieder im Balkonzimmer, dem vorletzten vor dem Quartier der Hornköpfe. Tally sah sich unschlüssig um. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, sich einfach unter dem Bett zu verkriechen und die beiden Wagas hinter dem Vorhang zu postieren, aber sie verwarf die Idee so schnell wieder, wie sie ihr gekommen war. Es hatte keinen großen Sinn, Fallen zu stellen, wenn sie nicht einmal wußte, mit wie vielen Feinden sie zu rechnen hatten. Die Drachen waren groß genug, ein halbes Dutzend Reiter zu tragen - pro Tier. Aber es mochte ebensogut nur einer sein. Nein - sie mußten erst wissen, mit wem sie es überhaupt zu tun hatten, ehe sie überlegen konnten, wie sie vorgingen.
Aber das war leichter gesagt als getan; denn obgleich es mehrere Dutzend Kammern und Zimmer gab, waren die meisten davon leer, und auch die bewohnten Teile des Quartiers boten wenige Möglichkeiten, einen Menschen und zwei Wagas zu verbergen, sah man von so intelligenten Verstecken wie Kleiderschränken und Vorhängen ab, hinter denen die Neuankömmlinge garantiert sofort nachsehen würden. Sie hätten schon blind und vollkommen schwachsinnig zugleich sein müssen, um nicht zu bemerken, daß hier irgend etwas nicht so war, wie es sein sollte - ganz abgesehen davon, daß die beiden rechtmäßigen Bewohnerinnen des Turmes nicht da waren, mußte ihnen der zerstörte Spiegel oben auf der Plattform auffallen, noch bevor sie landeten. Tally verfluchte sich im Nachhinein für ihre eigene Unbeherrschtheit, den Spiegel zerschlagen zu haben. Aber jetzt war es zu spät, den Fehler wiedergutzumachen; ihnen blieben noch zehn Minuten, allerhöchstens.
Tally warf einen raschen, nervösen Blick zur Tür, schob das Schwert in den Gürtel zurück, das sie ganz instinktiv gezogen hatte, und schlug den schweren Samtvorhang zur Seite, der den Durchgang zum Balkon verbarg. Der Wind schlug ihr wie eine eisige Kralle ins Gesicht und ließ sie blinzeln. Jetzt, mitten in der Nacht, wirkte das Innere des Turmes wie ein bodenloser Schlund, der nur darauf wartete, daß sie ihm zu nahe kam und an dessen Grund etwas namenlos Böses, Körperloses lauerte.