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Trotzdem trat sie nach kurzem Zögern ganz an das Geländer heran, legte die Hände auf das kalte Eisen und beugte sich vor, so weit sie konnte. Der Sog des Abgrundes wurde stärker. Für einen Moment mußte sie all ihre Willenskraft aufbieten, um ihm nicht einfach nachzugeben und sich nach vorne fallen zu lassen.

Es war schwer, in der herrschenden Dunkelheit überhaupt etwas zu erkennen, aber nachdem sich ihre Augen einmal an das schwache Licht gewöhnt hatten, sah sie genau das, was zu sehen sie gehofft hatte: der Balkon war nicht als freitragende Konstruktion gebaut, sondern wurde von drei mächtigen, schräg aus der Wand ragenden Balken gestützt. Und mit einigem Geschick mußte es möglich sein, über die Brüstung zu klettern und auf diesen Balken sicheren Halt zu finden.

Sie richtete sich auf, winkte Hrhon und Essk zu sich und erklärte ihnen ihren Plan. Hrhon schwieg, wie fast immer, wenn sie ihm einen Befehl erteilte, während seine Gefährtin sichtlich erschrocken zusammenfuhr und einen zischelnden Laut von sich gab.

»Ich weiß, daß es gefährlich ist«, sagte Tally. »Aber es ist die einzige Möglichkeit. Wenn sie euch beide hier finden, können sie sich den Rest der Geschichte an den Fingern einer Hand abzählen. Ihr versteckt euch hier, bis ich euch rufe.«

»Uhnd Ihr, Herrin?« fragte Hrhon.

»Ich werde sie hier erwarten«, antwortete Tally. »Ich bin allein und stelle keine unmittelbare Gefahr für sie dar. Vielleicht erfahre ich auf diese Weise mehr, als wenn wir gleich über sie herfallen.«

»Ein ghuter Plan«, stimmte Hrhon nach kurzem Überlegen zu. »Abher ghefhärlich.«

Tally warf einen schrägen Blick auf das Balkongitter und fragte sich, wie Hrhons Worte wohl wirklich gemeint waren. Selbst für einen geschickten Kletterer wie sie war es nicht ohne Risiko, über die Brüstung zu steigen und sich auf den Balken festzuklammern - für ein Wesen wie Hrhon grenzte es an Selbstmord. Tally schalt sich in Gedanken eine Närrin, die Zeit nicht genutzt zu haben, sich nach einem besseren Versteck umzusehen.

»Schnell jetzt«, sagte sie, ohne direkt auf Hrhons Worte einzugehen. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«

Hrhon zögerte noch einmal - wenn auch fast unmerklich - stieß ein resignierendes Grunzen aus und begann schnaubend und keuchend über die Brüstung zu steigen.

Der Balkon ächzte unter seinem Gewicht, und Tally sah, wie sich das zollstarke Eisen des Gitters verbog, als Hrhon darüber kletterte und mit entnervender Langsamkeit damit begann, sich Hand über Hand in die Tiefe zu hangeln.

Es wurde zu einen Wettlauf gegen die Zeit. Sie gewannen ihn, wenn auch so knapp, wie es überhaupt nur denkbar war - nach Hrhon stieg auch Essk über die Brüstung, aber ihr flaches Echsengesicht war kaum am unteren Rand des Gitters verschwunden, als der erste der drei gigantischen schwarzen Schatten über dem Turm erschien.

Tally trat mit einem hastigen Schritt zurück und spähte durch einen Spalt im Vorhang nach oben. Sie sah auf diese Weise nur noch einen handbreiten Ausschnitt des Himmels, aber sie wußte nicht, wie es um die Sehkraft der Drachen bestellt war - schließlich waren es Nachttiere - und wollte nicht das Risiko eingehen, vorzeitig entdeckt zu werden.

Und sie sah auch genug. Der gigantische Schatten, der den Himmel verdunkelt hatte, verschwand wieder, aber nur, um gleich darauf von einem zweiten, womöglich noch größeren, finsteren Etwas abgelöst zu werden, das den Himmel und die Sterne auslöschte und sich tiefer und tiefer auf die Turmspitze herabsenkte, bis Tally den Eindruck hatte, eine Glocke aus geronnener Schwärze habe sich über die Wüste gestülpt. Rote, im Verhältnis zur Körpergröße des Tieres lächerlich kleine Augen blinzelten zu ihr herab; die drei Reiter, die im Nacken des fliegenden Ungeheuers hockten, sahen aus wie Spielzeuge. Der Drache sank tiefer, schlug einmal fast gemächlich mit seinen gigantischen Flügeln und gewann noch einmal kurz an Höhe, ehe er vollends auf den Turm herabsank.

Das ganze, ungeheuerliche Gebäude erbebte, als sich das Monstrum auf seiner Spitze niederließ, halb aufgerichtet, die Schwingen wie eine zu groß geratene Fledermaus an den Körper gefaltet und den Hals fast grotesk vorgebeugt, damit seine Reiter nicht den Halt verloren und sich eine Meile tiefer die eigenen Hälse brachen.

Es war ungeheuerlich. Tally sah nur Schatten, schwarze Umrisse, gegen das Samtblau des Himmels, aber vielleicht machte gerade das den Anblick nur um so eindrucksvoller. Nach dem ersten Drachen landete der zweite, trotz seiner jede Vorstellung sprengenden Größe fast graziös und kurz darauf - sie sah es nicht, aber sie spürte, wie der Turm unter ihren Füßen ein drittes Mal ganz sacht erzitterte - das letzte Tier.

Ein schwer in Worte zu fassendes Gefühl von Ehrfurcht ergriff von Tally Besitz, trotz ihres Zornes und all des aufgestauten Hasses von mehr als anderthalb Jahrzehnten. Es war das erste Mal, daß sie die Drachen aus solcher Nähe sah, und trotz allem war alles, was sie empfand, Bewunderung, ein Schaudern angesichts der ungeheuerlichen Macht, die diese Tiere ausstrahlten, aber auch ihrer Schönheit und Grazie.

Tally hatte viele große Tiere gesehen - und einige davon waren wirklich groß gewesen - aber keines davon hatte auch nur annähernd die Größe dieser drei Drachen.

Und es war nichts Plumpes oder gar Schwerfälliges an diesen schwarzgeschuppten Riesen; ganz im Gegenteil.

Trotz ihrer Größe wirkten sie graziös, majestätisch und... ja, irgendwie leicht, wie sie so dahockten, leicht nach vorne gebeugt, manchmal die Flügel bewegend, um auf dem schmalen Grat die Balance zu halten, wie übergroße Raben, die auf einem Dachfirst saßen und ihr Gefieder schüttelten.

Nacheinander begannen die Reiter abzusteigen. Ihre Bewegungen wirkten grotesk; fast wie die von Ameisen, die über den Rücken eines Giganten krabbelten, und trotz der großen Entfernung konnte Tally die Unsicherheit und Vorsicht erkennen, die ihnen innewohnte.

Und dann geschah etwas, womit Tally fast gerechnet hatte, und das sie doch zutiefst erschreckte: kaum waren die Reiter vom Rücken des ersten Drachen heruntergestiegen, spreizte das Ungeheuer die Flügel, ließ sich nach vorne kippen - und stürzte senkrecht in den Turm hinab; ein schwarzer Koloß, dessen nur halb aufgespannten Schwingen um ein Haar die Wände berührten.

Der Sturmwind, der dem Koloß hinterherfauchte, trieb Tally zurück ins Zimmer. Sie taumelte ein paar Schritte zurück, hob schützend die Hände vors Gesicht und krümmte sich, als der schwere Samtvorhang wie eine übergroße Hand nach ihr schlug. Dann kam sie endlich auf die Idee, zur Seite zu treten - und keinen Moment zu früh, wie sich zeigte, denn kaum war der Luftsog ein wenig schwächer geworden, stürzte der zweite Drache in den Turm hinab, jetzt nicht mehr als eine Faust aus Schwärze, die vor dem Balkon vorbeirauschte.

Voller Schrecken dachte sie an Hrhon und Essk, die dem heulenden Luftsog schutzlos ausgeliefert waren.

Aber sie wagte es nicht, noch einmal hinauszugehen und nach den beiden Wagas zu sehen.

Statt dessen drehte sie sich herum, ging nach kurzem Überlegen zu dem verwüsteten Bett und kuschelte sich an sein Kopfende. Sie zog die Knie an den Körper, zog ein Stück der zerfetzten Decke über die Beine und legte das Schwert griffbereit neben sich, die Hand auf der ledernen Scheide. Den Kopf lehnte sie in einer bewußt unbequemen Stellung an den Bettpfosten; ganz die Haltung eines Menschen, der sich nur ein wenig hatte ausruhen wollen und dabei unversehens eingeschlafen war.

Sie wartete. Und sie betete zu allen Göttern, die sie kannte - und vorsichtshalber auch gleich zu allen, von denen sie noch nie gehört hatte -, daß ihre Rechnung aufgehen und die Drachenreiter sie nicht gleich töten, sondern erst mit ihr reden würden.