Lyss bemerkte ihren Blick, wandte sich stirnrunzelnd um und schlug mit einem Ruck den Vorhang beiseite.
Tallys Herz machte einen schmerzhaften Sprung und schien in ihrer Kehle zu einem pulsierenden Knoten zu gefrieren, als sie sah, wie die Drachenreiterin mit einem Schritt auf den Balkon hinaustrat, einen Moment lang in die Tiefe blickte und sich dann vorbeugte, beide Hände auf dem Gitter abgestützt.
»Ich sage die Wahrheit, Herrin«, sagte sie hastig und zum wiederholten Male. »Ich fand diesen Turm so vor. Alles war verwüstet.«
»Und warum bist du dann geblieben?« fragte Lyss. Sie drehte sich wieder um, trat jedoch nicht von dem Balkon herunter, sondern lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen gegen die Brüstung. Den eisigen Wind, der aus der Tiefe emporfauchte, schien sie nicht einmal zu spüren. Die Entfernung und die Dunkelheit, vor der sie stand, ließen sie zu einem flachen finsteren Schatten werden, beinahe noch bedrohlicher als bisher.
»Ich... ich weiß es nicht, Herrin«, stammelte Tally. »Ich hatte Angst, daß Ihr mich für die Schuldige halten würdet. Und ich war verletzt, und... und...«
»Und außerdem ein bißchen neugierig, nicht?« sagte Lyss spöttisch, als sie nicht weitersprach. »Nun, was das angeht, kann ich dich sogar verstehen, Kind. Die Gelegenheit, hier ein bißchen herumzuschnüffeln und vielleicht sogar die Götter selbst zu sehen, hätte ich mir auch nicht entgehen lassen.« Sie lachte leise, kam nun doch wieder näher und sah Tally abschätzend an. »Ich werde nicht schlau aus dir, Tally. Du erzählst eine Geschichte, die sehr unwahrscheinlich klingt, aber trotzdem wahr sein könnte. Und trotzdem sagt mir etwas, daß es besser wäre, dir nicht zu glauben. Aber wir werden es herausfinden, Schätzchen. Sobald Vakk zurück ist. Wenn du die Wahrheit gesagt hast, hast du nichts zu befürchten. Wenn nicht, wäre es besser, du redest jetzt. Vakk hat gewisse... Methoden, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden.«
»Vakk ist der... der Hornkopf, der bei Euch ist?« fragte Tally stockend.
Lyss zog eine Grimasse. »Ja. Aber ich würde das nicht sagen, wenn er es hört. Er mag es nicht, wenn man ihn so nennt. Also?«
Tally schwieg. Sie glaubte zu spüren, daß Lyss' Worte mehr als eine leere Drohung waren, und sie hatte das entsetzliche Gefühl nicht vergessen, das sie überkommen hatte, als der Hornkopf sie das erste Mal anblickte.
Trotzdem schüttelte sie nur den Kopf.
»Wie du willst«, sagte Lyss achselzuckend. »In wenigen Minuten wissen wir ohnehin, ob du lügst oder nicht.« Sie wandte sich an Maya. »Ruf deinen Drachen«, sagte sie. »Wenn sie die Wahrheit sagt und es wirklich Krieger einer anderen Sippe waren, die Tionn und Farin töteten, will ich sie haben. Sie können noch nicht sehr weit sein. Es gibt im Umkreis von fünf oder sechs Tages-reisen nichts, wo sie sich verstecken könnten.«
»Der Sturm wird alle Spuren verwischt haben«, gab Maya zu bedenken, aber Lyss fegte ihre Worte mit einer unwilligen Bewegung zur Seite. »Du machst dich startbereit«, sagte sie noch einmal. »Wenn es Krieger aus Ancen waren, brennen wir dieses verdammte Rattennest nieder. Aber ich will einen Beweis.«
Maya schien abermals widersprechen zu wollen, beließ es aber dann bei einem gehorsamen Kopfnicken und entfernte sich durch die turmabwärts führende Tür. Die Beterin folgte ihr, und Tally blieb mit Lyss und der riesigen Ameise allein zurück. Vielleicht, überlegte sie, wäre jetzt der Augenblick gekommen, anzugreifen. Der Hornkopf war kein Problem... Tally kannte diese mannsgroßen Ameisen gut genug, um zu wissen, wo ihr verwundbarer Punkt war. Sie waren stark genug, ein Pferd in Stücke zu reißen, aber ihr Hals und die Einschnürung in ihrer Körpermitte waren so lächerlich dünn, daß ein kräftiger Schwerthieb reichte, sie in zwei Teile zu spalten. Und ihre Waffe lag nur zwei Schritte von ihr entfernt.
Aber sie zögerte zu lange. Der einzige Moment, in dem ein Angriff Erfolg hätte haben können - nämlich der, in dem Lyss sich umwandte und Maya und der Beterin nachsah - ging ungenutzt vorüber, und schon einen Moment später drehte sich Lyss wieder herum und richtete den Lauf ihrer Waffe auf Tally.
»Darf ich... mich setzen?« fragte Tally schüchtern. Sie deutete auf das Bett.
Lyss nickte, trat jedoch mit einem raschen Schritt vor und fegte das Schwert mit einem Fußtritt von dannen, ehe sie eine auffordernde Handbewegung machte.
»Sicher«, sagte sie. »Hast du Angst?«
Tally nickte, ließ sich auf das Bett sinken und versuchte eine Stellung einzunehmen, die gelöst wirkte, in der sie aber notfalls blitzschnell vorspringen konnte. Es gelang ihr nicht ganz. Lyss war eine aufmerksame Beobachterin. Wenn sie ihr ohnehin vorhandenes Mißtrauen noch weiter schürte, hatte sie vollends verspielt.
»Vor den Hornköpfen, ja«, antwortete sie mit einiger Verspätung. »Vor euch nicht.«
Lyss lächelte dünn und maß die Riesenameise mit einem undeutbaren Blick. »Gibt es sie nicht, dort, wo du herkommst?«
»Nicht solche«, erwiderte Tally wahrheitsgemäß. »Unsere Hornköpfe sind dumme Kreaturen. Tiere, die nur zum Arbeiten und Kämpfen gut sind. Dieses... Ungeheuer, das bei Euch ist - Vakk. Er ist ein nicht-Mensch, nicht wahr?«
»Wenn du damit meinst, daß er ein denkendes Wesen ist, hast du recht«, antwortete Lyss mit erstaunlicher Offenheit. »Er ist nicht so intelligent wie ein Mensch, aber er ist auch kein Tier. Und er ist sehr nützlich.«
Tally überhörte die Drohung, die in Lyss' letzten Worten mitschwang, keineswegs. Ihr Gedanken arbeiteten wie rasend.
Wie lange war es her, daß Lyss die Ameise fortgeschickt hatte, nach ihrer Begleiterin und Vakk zu rufen? Sicher erst wenige Minuten. Aber das Gebäude war nicht so furchtbar groß, daß ihr noch viel Zeit blieb, irgend etwas zu unternehmen. Tally hatte längst begriffen, daß ihr Plan fehlgeschlagen war, sich in das Vertrauen der drei Drachenreiterinnen zu schleichen und so die Informationen zu erlangen, die sie brauchte.
Das einzige, was ihr jetzt noch - vielleicht - möglich war, war irgendwie am Leben zu bleiben.
»Darf ich Euch eine Frage stellen?« sagte sie.
Lyss nickte. »Sicher.«
»Diese Ancen-Leute, von denen ihr gesprochen habt«, sagte Tally zögernd. »Wer sind sie? Ich habe noch nie von einem Volk dieses Namens gehört.«
»Eine Sippe wie die deine«, antwortete Lyss bereitwillig.
»Gibt es denn mehr?«
Lyss lachte leise, aber jetzt klang der Spott darin fast gutmütig. »Natürlich«, sagte sie. »Hast du wirklich gedacht, eure Sippe wäre die einzige?« Sie machte eine Bewegung, die den ganzen Turm einschloß. »Dies alles hier wäre wohl etwas zu aufwendig, um einem Narren wie Hraban ein wenig Hokuspokus vorzumachen, nicht wahr? Und die Welt ist ein bißchen zu groß, um von einer dreihundert Köpfe zählenden Horde aus Gesindel und Mördern beherrscht zu werden. Aber das wirst du alles noch genauer erfahren, wenn sich herausstellen sollte, daß du die Wahrheit sagst.«
»Dann werdet Ihr mich nicht töten?«
»Wenn du gelogen hast, ja«, antwortete Lyss. »Sonst nicht. Aber du kannst auch nicht zurück zu deiner Sippe, das wirst du einsehen. Nicht nach allem, was du hier gesehen hast. Ich denke, wir nehmen dich einfach mit.«
»Mit zu... euch?« keuchte Tally. »Mit dorthin, wo ihr herkommt, Ihr und die anderen?«
Lyss nickte. In ihren Augen stand ein amüsiertes Funkeln. »Warum nicht? Es wäre unsinnig, dich zu töten, wenn deine Geschichte der Wahrheit entspricht. Aber du kannst auch nicht zurück zu deinen Leuten, das wirst du verstehen. Es wird dir gefallen, Tally. Bei uns als Sklavin zu dienen ist immer noch tausendmal besser als die Königin dieser Barbaren zu sein.«