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Tally schoß ein zweites Mal.

Vakks Brustpanzer zersplitterte wie unter einem Hammerschlag. Einer seiner Arme brach ab und flog davon, und plötzlich durchzog ein Spinnennetz aus Tausenden feinverästelter Risse und Sprünge durch seinen tonnenförmigen Leib. Gelbes Insektenblut quoll wie zähflüssiger Honig aus seinem Maul.

Er war tot, noch ehe er nach vorne kippte und auf dem Boden aufschlug, aber Tally schoß noch einmal, und noch einmal und noch einmal, bis der gigantische Hornkopf nichts mehr war als ein schwarzgelber, brodelnder Haufen aus zerfetztem Fleisch und zerborstenen Panzerplatten.

Aber selbst dann feuerte sie weiter; ein, vielleicht zwei dutzend Mal, bis die Waffe in ihrer Hand nur noch ein protestierendes Summen ausstieß und das rote Dämonenauge zu flackern begann. Erst dann ließ sie den Arm sinken, hob die linke Hand vor das Gesicht und schloß die Augen.

Sie fühlte... nichts. Eine Leere, die entsetzlicher als der Haß zuvor, schlimmer als die Angst war. Dann Entsetzen, ein unendlich tiefes, kaltes Grauen vor sich selbst, vor dem Ungeheuer, in das sie sich für Augenblicke verwandelt hatte, dem Blutrausch, der sie überkommen hatte.

Sie hatte getötet, aber zum allerersten Mal in ihrem Leben hatte es ihr Freude bereitet, keine Befriedigung, wie bei Hraban, keinen Triumph, wie in den unzähligen Schlachten und Zweikämpfen, die sie bestanden hatte, sondern Freude. Und sie wußte, daß es keine Rolle spielte, daß es ein Hornkopf gewesen war. In diesem Moment hätte sie auch Lyss oder eine der beiden anderen Frauen erbarmungslos - und mit dem gleichen furchtbaren Gefühl - getötet.

Plötzlich war ihr kalt. Und sie ekelte sich vor sich selbst. Angewidert schleuderte sie die Waffe von sich, stand auf und blieb einen Moment reglos mit geballten Fäusten und geschlossenen Augen stehen, bis ihre Hände und Knie aufgehört hatten, haltlos zu zittern.

Hrhon hockte neben Essks Leichnam, reglos und in unnatürlich verkrampfter Haltung, als sie neben ihn trat. Im ersten Moment glaubte sie, er wäre verletzt.

Aber dann sah sie, wie seine Hand in einer unglaublich sanften Bewegung über Essks zerstörtes Gesicht glitt und ihre Lider schloß, und sie begriff, daß Hrhons Schmerz nicht körperlicher Art war.

Ein Gefühl sonderbarer Wärme durchströmte sie. Es war absurd, und es war unglaublich grausam - aber genau das war es, was Tally in diesem Moment spürte: ein Gefühl von Freundschaft und Verbundenheit mit dem Waga, wie sie es niemals zuvor irgendeinem anderen lebenden Wesen gegenüber empfunden hatte. Sie spürte Hrhons Schmerz, den furchtbaren Verlust, den er erlitten hatte, und sie teilte ihn, und trotzdem überkam sie eine tiefe Erleichterung, als sie begriff, daß Hrhon unter der Maske der unbesiegbaren Kampfmaschine ein fühlendes Wesen wie sie war. Sie hätte es in diesem Moment nicht ertragen, wäre es anders gewesen.

Sicherlich zehn Minuten stand sie einfach so da, blickte auf Hrhon und die tote Essk herab und schwieg, bis Hrhon ihre Nähe spürte und schwerfällig zu ihr emporblickte. Sein Gesicht war ausdruckslos wie immer, aber in seinen Augen schimmerten Tränen. Sie hatte bis zu diesem Moment nicht einmal gewußt, daß Wagas weinen konnten.

»Es... es tut mir leid, Hrhon«, sagte sie ganz leise.

Hrhon schwieg.

»Du hast sie geliebt, nicht wahr?« Tally ließ sich neben dem Waga auf die Knie sinken und berührte seinen Schulterpanzer.

»Sssie whar meine Ghefährin«, antwortete Hrhon. In seiner Stimme war ein Klang, den Tally niemals zuvor darin gehört hatte.

»Deine Gefährtin.« Tally versuchte zu lächeln, aber sie spürte selbst, daß eine Grimasse daraus wurde.

»Großer Gott, Hrhon, du hast sie geliebt. Geliebt wie ein Mann eine Frau liebt, ein Mensch einen Menschen. Und ich habe euch für Tiere gehalten. All die Jahre hindurch.« Sie senkte beschämt den Blick. Hrhon antwortete nicht, aber vielleicht war es gerade das, was es so schlimm machte.

»Es tut mir so leid«, flüsterte sie.

»Dasss bhraucht esss nissst«, antwortete Hrhon. »Sssie ssstarb im Khampf. Ein ghuter Tod fhür eine Waga.«

»Ein sinnloser Tod«, sagte Tally leise. »Es war alles umsonst, Hrhon. Ich habe euch hierher geführt und Essk damit umgebracht, und es hatte nicht einmal einen Sinn.«

»Sssie sssind tot«, sagte Hrhon mit einer Geste auf die beiden Drachenreiterinnen.

»Aber ich bin nicht gekommen, um sie zu töten«, antwortete Tally. »Ich wollte Informationen von ihnen. Ich wollte wissen, woher sie kommen. Warum sie tun, was sie tun.«

»Warum?« wiederholte Hrhon. »Warum whollt ihr dasss wisssen, Herrin?«

»Weil ich sie hasse, Hrhon«, antwortete Tally. »Sie haben mein Volk getötet. Sie haben meine Familie vernichtet und meine Stadt ausgelöscht, so wie sie Hunderte von Städten in Dutzenden von Ländern verbrannt haben. Ich hasse sie. Ich... ich kam hierher, um ihr Geheimnis zu ergründen. Ich wollte wissen, wer sie waren, und woher sie kamen.«

»Um sssie sssu sssuchen und aussszulösssen«, vermutete Hrhon. Tally nickte. Es war möglich, daß sie damit ihr eigenes Todesurteil aussprach, und sie wußte es, denn Hrhon gehörte zur Sippe, nicht zu ihr. Aber es war ihr gleich. Sie hätte sich nicht einmal gewehrt, hätte Hrhon sie in diesem Moment angegriffen.

»Ihr müssst sssie sssehr hasssen«, fuhr Hrhon fort, sehr leise, und sehr ernst.

»Mit jeder Faser meiner Seele«, antwortete Tally. »Ich lebe nur dafür, sie zu vernichten, Hrhon.« Ihre Stimme wurde hart. »Das ist der Grund, aus dem ich all dies getan habe. Aus dem ich Hraban gefolgt bin und ihn geheiratet habe. Aus dem ich die Anführerin einer Sippe von Mördern und Gesindel wurde, die durch die Welt zieht und die tötet, die die Drachen übersehen haben. Und es war alles umsonst.«

»Ssseid Ihr sssicher?« fragte Hrhon.

»Sie sind tot, oder? Tote reden nicht.«

»Eine lebt noch«, erinnerte Hrhon ruhig. »Sssie weiss nicht, wasss gesssehen issst«, fuhr Hrhon fort. »Whir wherden sssie ühberwälthigen. Sssie whird reden.«

»Und wenn nicht?« fragte Tally.

»Sssie whird«, behauptete Hrhon. »Ühberlassst sssie mhir, und ihr wheerdet erfharhen, wasss ihr wisssen wollt.«

Tally schwieg einen Moment. Der Gedanke, Maya - auch wenn sie zu ihren erklärten Todfeinden gehörte - einem zornigen Waga auszuliefern, erfüllte sie mit Schaudern. Aber dann blickte sie in Essks zerstörtes Gesicht, und sie begriff, daß dies die Bedingung war.

Ohne daß es einer von ihnen mit nur einem Wort aussprechen mußte, war es eine Vereinbarung. Hrhon würde auch weiterhin bei ihr bleiben, so, wie er ihr mit seiner unerschütterlichen Ruhe und seiner ungeheuren Kraft stets geholfen hatte, aber der Preis dafür war Maya.

Tally begann zu ahnen, daß ihr der Waga im innersten wohl sehr viel ähnlicher war, als sie bisher für möglich gehalten hatte.

»Sie werden erfahren, was hier geschehen ist«, sagte sie leise.

Hrhon schwieg.

»Du kannst nicht zurück zur Sippe, Hrhon«, fuhr Tally fort. »Sie werden sie auslöschen. Sie werden Conden verbrennen.«

Hrhon schwieg noch immer, und auch Tally sagte jetzt nichts mehr.

Eine Stunde später kehrten Maya und die Beterin zurück. Tally erschoß den Hornkopf mit Lyss' Waffe und ließ Hrhon mit Maya allein, um auf die Plattform am oberen Ende des Turmes hinaufzugehen. Sie fragte niemals, was er getan hatte, aber als die Sonne aufging und die erstarrten Dünen der Gehran mit Blut zu überschütten begann, kam der Waga zu ihr herauf. Seine Hände waren voller Blut, und es war nicht sein eigenes.

»Hat sie gesprochen?« fragte Tally, ohne ihn anzusehen.

Der Waga machte eine zustimmende Handbewegung.