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»Isss weisss, whoher sssie khommen.«

Tally stand auf. Es war noch kalt, und ihre Glieder fühlten sich klamm und steif an. Fröstelnd rieb sie die Hände aneinander, trat ganz dicht an den Rand der Plattform heran und blickte in die Tiefe. Die Kälte nahm zu, obwohl die Sonne rasch höher stieg, aber es war eine Kälte, die eher aus ihr selbst zu kommen schien. Es war sonderbar - fünfzehn Jahre lang hatte sie von diesem Moment geträumt, und sie hätte Triumph verspüren müssen. Aber er kam nicht. Ganz im Gegenteil hatte sie beinahe Angst davor, endlich die Antwort auf die Frage zu bekommen, deren Lösung sie ihr Leben verschrieben hatte.

Es dauerte lange, bis sie fragte, woher die Drachen kamen.

Hrhon sagte es ihr.

~ ~ ~

Die Frau hatte aufgehört zu reden, aber das Mädchen merkte es im ersten Moment gar nicht. Sie war müde. Die Nacht war weit fortgeschritten - dem Morgen schon näher als der Mitternacht, und trotz allem, was es gehört und erlebt hatte, verlangte ihr Körper sein Recht. Das Kind war müde, und gleichzeitig hatte es eine fast panikartige Angst davor, einzuschlafen.

Es hatte Angst, es könnte aufwachen und allein sein. Die fremde Frau mit den dunklen Haaren und der sanften Stimme, die so faszinierend zu erzählen wußte, war jetzt alles, was es noch hatte.

»Bist du müde, Kind?« fragte die Frau.

Das Mädchen schüttelte den Kopf, dann bemerkte es den zweifelnden Blick und lächelte verlegen. Nur noch mit Mühe unterdrückte es ein Gähnen. »Ja«, gestand es. »Aber ich will nicht schlafen.«

»Du kannst es ruhig«, sagte die Frau. »Ich werde aufpassen, daß dir nichts geschieht.«

Das Mädchen schüttelte beinahe erschrocken den Kopf.

»Nein«, sagte es hastig. »Ich will nicht schlafen.« Es zögerte einen Moment, dann: »Ist... Tallys Geschichte damit zu Ende?«

Ihre Frage schien die Fremde zu amüsieren, denn sie lachte leise. »O nein«, sagte sie. Wieder - wie schon mehrere Male zuvor - legte sie den Kopf in den Nacken und blickte in den Himmel, und das Mädchen war jetzt sicher, daß sie es tat, weil sie etwas ganz Bestimmtes suchte oder auf etwas wartete. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, auf was. Aus dem Himmel kamen nur die Drachen und der Tod.

»Soll ich weitererzählen?« fragte die Frau.

Das Mädchen nickte.

»Dann hör zu«, sagte die Frau. »Es kam genau so, wie Tally geglaubt hatte. Natürlich erfuhren die Herren der Drachen, was in jener Nacht im Turm geschehen war, und sie übten furchtbare Rache. Tally und Hrhon gingen nicht zurück nach Conden, aber später hörten sie, daß die Drachen gekommen waren, kaum einen Monat nach ihrer Flucht, und die gesamte Sippe ausgelöscht hatten.«

Das Mädchen schauderte. Es erschien ihr ungerecht, daß so viele hatten sterben müssen, nur um der Rache einer einzelnen Frau wegen. Aber dann rief sie sich ins Gedächtnis zurück, daß es ja schließlich nur eine Geschichte war, die die Frau erzählte.

Sie war schon lange sicher, daß es nichts anderes sein konnte.

»Und Tally?« fragte sie.

»Sie und Hrhon machten sich auf die Suche«, antwortete die Frau. »Sie wußten nun, woher die Drachen kamen. Aber der Weg war weit und voller Gefahren, und die meisten, die sie fragten, behaupteten, daß es ohnehin unmöglich wäre, ihn zu gehen. So suchten sie jemanden, der ihn schon einmal gegangen war.«

3. KAPITEL - SCHELFHEIM

~ 1 ~

Selbst aus einer Entfernung von mehreren Meilen betrachtet wirkte die Stadt imposant. Dabei war keines ihrer Gebäude höher als drei Stockwerke, und selbst die Türme, von denen sich gleich mehrere Dutzend über die geneigte Stadtmauer erhoben, verdienten diesen Namen kaum; eigentlich waren es nur buckelige Warzen auf dem steinernen Damm, der Schelfheim umgürtete. Die Stadt war auf weichem, sandigem Grund erbaut, der keine schweren Gebäude trug. Aber was ihr an Höhe fehlte, machte Schelfheim an Ausdehnung wett - der Durchmesser der Stadtmauer mußte gute fünf Meilen betragen, und sie umschloß nur einen Bruchteil der wirklichen Stadt.

Schelfheim war vielleicht die einzige Stadt auf der Welt, deren Wehrmauer hinter einem Wall von Häusern lag, statt umgekehrt. Aber das Gewirr aus Straßen und Gebäuden und Plätzen hatte irgendwann vor hundert oder mehr Jahren damit begonnen, den steinernen Gürtel zu überwuchern, den seine Erbauer zum Schutz gegen einen Feind errichtet hatten, der niemals gekommen war, und sich in alle Richtungen ausgebreitet. Jetzt bedeckte es ein Gebiet von sicherlich hundertfünfzig Quadratmeilen. Ausdehnung. Es war die größte Stadt, die Tally jemals gesehen hatte, vielleicht die größte, die es überhaupt gab. Aber dadurch, daß nichts in ihr höher als zehn Meter war, wirkte sie auf den ersten Blick wie ein flachgewalzter Pfannkuchen und auf den zweiten Blick eigentlich eher erschreckend als majestätisch.

Etwas an dieser Stadt störte sie.

Tally überlegte einen Moment, ob es vielleicht ihre Lage war: Schelfheim war auf dem nördlichsten Stück Norden erbaut worden, das es überhaupt gab. Von ihrem jenseitigen Ende aus mußte man fast in den Schlund spucken können. Ganz abgesehen von ihrer angeborenen Abneigung gegen Städte und zu viele Menschen war es kein Ort, an dem sie gerne gelebt hätte - eigentlich ein Ort, von dem sie sich überhaupt nicht vorstellen konnte, daß dort irgend jemand gerne lebte.

Aber die Nähe der Hölle hat die Menschen schon von jeher fasziniert - vorausgesetzt, sie war nicht so nahe, daß sie wirklich gefährlich werden konnte.

Sie hatten die Pferde auf dem letzten Felsenkamm anhalten lassen. Tally spürte, wie der Rappe vor Erschöpfung zitterte. Der Ritt war lang gewesen und überaus anstrengend. Sie hatten den schweren, aber sehr viel kürzeren Weg durch die Berge genommen und darauf gebaut, daß der Frühling schneller sein würde als sie - was ein Irrtum gewesen war. Schon am Abend des zweiten Tages waren sie in heftiges Schneetreiben geraten, das bald zu einem Sturm angewachsen war, der sie drei Tage in einer Felsenhöhle festgehalten hatte.

Tally schauderte noch jetzt, wenn sie daran zurückdachte. Sie hatten das Packpferd geschlachtet und gegessen und alles verbrannt, was brennbar war; ihre ohnehin schmale Habe war auf das zusammengeschmolzen, was sie am Leib trugen. Und trotzdem wären sie um ein Haar erfroren. Zum ersten Mal seit sechzehn Jahren hatten sie Hrhons Kräfte im Stich gelassen, denn der Waga war ein Kaltblüter und hilfloser als sie. Anders als gewohnt hatte sie dafür sorgen müssen, daß er nicht starb. Hätte der Sturm noch einen Tag länger angehalten...

Tally verscheuchte den Gedanken, strich ein wenig pulverigen Schnee aus der Mähne ihres Pferdes und tätschelte dem Tier geistesabwesend den Hals. Das Fell des Rappen dampfte vor Kälte; sein Schweiß roch schlecht. Sie konnte von Glück sagen, wenn das Tier noch bis Schelfheim durchhielt, wo sie es gegen ein neues eintauschen konnte. Und Hrhons Pferd...

Sie drehte sich halb im Sattel herum und blickte zu dem Waga zurück, der in unnachahmlich grotesker Haltung auf dem Rücken seines Kleppers hockte - einen anderen Namen verdiente die Schindmähre wirklich nicht. Der Händler, dem sie es für einen Wucherpreis abgekauft hatte, mußte sie insgeheim für völlig übergeschnappt gehalten haben, für ein solches Pferd auch nur einen roten Heller auszugeben. Es war nicht nur häßlich, sondern auch halb lahm und bewegte sich selbst im Galopp nicht sehr viel schneller als ein Spaziergänger.