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»Auch für das hier?« Tally deutete nach unten. Die Straße lag wie eine schwarze Schlucht unter den Häusern. Aber Tally mußte die Toten nicht sehen, um zu wissen, daß sie da waren.

Weller lachte hart. »Was bist du?« fragte er. »Naiv oder nur blind? Warum glaubst du wohl, ist der Stadtrand von Schelfheim eine einzige Festung. Diese Bastarde versuchen immer wieder, die Stadt anzugreifen. Es war schon schlimmer als dieses Mal. Vor zwei Jahren haben sie es geschafft, die Garde zu überrennen und bis in die Stadtmitte vorzudringen.«

Er schüttelte drohend die Faust gegen den Halbkreis aus Flammen, der die Stadt einschloß. »Sie sind eine Pest«, fuhr er fort. »Und sie vermehren sich wie die Karnickel. Wenn nicht ab und zu ein paar von ihnen erschlagen würden, würde sie Schelfheim einfach überfluten.«

Tally verbiß sich die zornige Antwort, die ihr auf den Lippen lag. Weller begann sich in Rage zu reden, und wahrscheinlich war er ohnehin taub für alle Argumente, die sie vorbringen würde.

»Und jetzt genug«, fuhr Weller fort. »Ich bin nicht hier, um mit dir über dieses Gesindel zu reden.«

»Sondern?« fragte Tally.

Anstelle einer direkten Antwort drehte sich Weller herum und deutete nach Norden. »Deshalb.«

Tallys Blick folgte seiner Bewegung. Sie waren der Stadt jetzt sehr nahe, aber es war noch nicht vollends hell geworden, und alles, was sie im blassen Licht der Dämmerung erkennen konnte, war eine gewaltige Massierung finsterer Schatten und gedrungener Umrisse, ein steinernes Meer, das sich bis zum Horizont erstreckte. Die Brände, die auch in ihrer unmittelbaren Nähe noch tobten, ließen die Dunkelheit im Norden noch tiefer erscheinen.

»Es ist ein guter Tagesmarsch bis in den Norden«, sagte Weller. »Schelfheim ist groß.«

»Und du hast keine Lust, uns zu begleiten«, vermutete Tally. Sie lächelte müde. »Erklär mir den Weg, und du bist frei.«

Weller starrte sie an. »Ist das... dein Ernst?« fragte er ungläubig.

Tally nickte. »Ja. Ich hätte dich niemals zwingen dürfen, mitzukommen. Es tut mir leid.«

»Leid?« Weller ächzte. »Du bist von Sinnen, Tally. Ohne meine Hilfe wären du und dein geschuppter Freund nicht einmal bis hierher gekommen!«

»So?« Tally war in diesem Punkt etwas anderer Auffassung, und sie sagte es Weller: »Ohne deine Hilfe wären wir vielleicht niemals von Braku und seinen Klorschas aufgehalten worden, meinst du nicht?«

»Unsinn«, behauptete Weller. »Das mit Braku war ein dummer Zufall. Aber es gibt noch mehr Gefahren im Slam als Braku. In Schelfheim übrigens auch. Allein seid ihr verloren, glaube mir.«

»Und jetzt willst du mir deine Führung anbieten?« vermutete Tally. »Warum?«

Weller zuckte mit den Achseln. »Vielleicht gefällst du mir«, sagte er anzüglich. »Außerdem kann ich ohnehin nicht zurück, solange hier noch der Teufel los ist.« Er grinste, trat einen Schritt auf sie zu und blieb abrupt wieder stehen, als Tally drohend die Hand hob.

»Warum willst du wirklich mitkommen?« fragte Tally.

»Vielleicht aus Neugier«, antwortete Weller. »Weißt du, als ich dich gestern das erste Mal gesehen habe, habe ich mich gefragt, was an dir so Besonderes sein mag, daß die halbe Welt dich sucht.« Er machte eine vage Geste auf die brennende Stadt hinab. »Ich beginne es zu begreifen.«

»Ich wollte das nicht«, antwortete Tally unerwartet scharf. »Hätte ich geahnt, was passieren wird, hätte ich es nicht getan.«

»Und dich lieber umbringen lassen?« Weller schnaubte. »Mach dir nichts vor, Tally - wenn die Garde nicht zufällig aufgetaucht wäre, hätte Braku uns alle umgebracht. Wenigstens hätte er es versucht. Obwohl ich mir mittlerweile nicht mehr so sicher bin, daß es ihm gelungen wäre.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Tallys Gürtel. »Diese Waffe, die du da hast - woher stammt sie?«

»Ich habe sie nicht mehr«, sagte Tally. »Ich... habe sie verloren, als ich noch einmal zurückgegangen bin, um Hrhon und dich zu holen.«

»Oh«, machte Weller enttäuscht. »Das ist schade. Sie hätte uns noch von Nutzen sein können. Außerdem hätte ich sie dir gerne abgekauft.«

Tally lächelte matt. »Was bringt dich auf die Idee, daß ich sie verkauft hätte?«

»Der Umstand, daß ich Leute kenne, die ein Vermögen dafür bezahlen würden«, erwiderte Weller ernst.

»Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich kein Geld brauche«, erwiderte Tally, aber Weller ließ ihre Worte nicht gelten, sondern machte eine heftige Handbewegung und sagte:

»Du weißt ja nicht, was du sprichst, dummes Weib. Du kommst aus dem Süden, und da gelten andere Gesetze. Dies hier ist die Zivilisation, und ohne Geld kommst du dich hier nicht einmal in Ehren beerdigen lassen. Wenn du zu Karan willst - und vor allem, wenn du etwas von ihm willst, brauchst du Geld. Viel Geld. Hast du irgend etwas, das du verkaufen könntest?«

Tally schüttelte den Kopf, ohne auch nur eine Sekunde über Wellers Worte nachzudenken. Es war so, wie sie gesagt hatte - sie hatte niemals Geld gebraucht, und alles von Wert, was sie jetzt noch besaß, waren das Schwert an ihrer Seite - und die vier anderen Drachenwaffen, die sich wohlversteckt in dem Ledersack befanden, der auf Hrhons Rücken geschnallt war. Aber sie hätte sich eher die linke Hand abhacken lassen, ehe sie eine solche Waffe einem Mann wie Weller gegeben hätte.

Wieder sah sie Weller mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung an, dann runzelte er plötzlich die Stirn, hob die Hand und deutete auf den Blutstein, der an einer dünnen Kette an ihrem Hals hing. »Was ist das?« fragte er.

Tally legte ganz instinktiv die Hand auf den Stein. »Nichts«, sagte sie hastig. »Jedenfalls nichts, was ich verkaufen könnte.«

»Er sieht wertvoll aus«, sagte Weller stur.

»Das mag sein. Aber ich verkaufe ihn nicht.« Etwas im Klang ihrer Stimme schien Weller davon zu überzeugen, daß es wenig Sinn hatte, weiter in sie zu dringen. Er seufzte nur, drehte sich wieder um und starrte nach Süden.

»Dann wird es schwer«, murmelte er. »Wir brauchen einen Träger, um in den Norden zu kommen. Und nach dem hier -« Er deutete in die Tiefe. »- wird es in der Stadt von Soldaten und Patrouillen wimmeln.«

»Und?« fragte Tally.

Weller verdrehte in komisch gespieltem Entsetzen die Augen. »Ihr Götter, woher kommt dieses Weib?« stöhnte er. »Wir brauchen Geld, um sie zu bestechen. Viel Geld, fürchte ich. Und auch Karan wird seinen Teil verlangen. Ich kenne ihn. Er ist ein gieriger alter Kauz. Wenn du ihn nicht bezahlst, sagt er dir nicht einmal, wie spät es ist.«

Tally schwieg einen Moment, dann seufzte sie, schüttelte ein paarmal den Kopf und sagte: »Vielleicht ist es doch besser, wenn wir uns trennen.«

»Warum?« fragte Weller scharf. »Hast du Angst, ich könnte dir helfen?«

»Du komplizierst alles«, antwortete Tally ungerührt. »Bisher sind Hrhon und ich ganz gut allein zurecht gekommen, weißt du?«

»Bisher wart ihr auch nicht in Schelfheim«, antwortete Weller ärgerlich. »Beim Schlund, sieh doch endlich ein, daß ich dir helfen will, Mädchen! Du und dein Schildkrötenfreund, ihr seid bisher vielleicht ganz gut allein zurecht gekommen - draußen in eurer Wüste. Aber das hier ist die Zivilisation. Hier gelten andere Gesetze.«

»Ich weiß«, antwortete Tally leise. »Aber sie gefallen mir nicht.«

»Mir auch nicht«, versetzte Weller grob. »Aber sie sind nun mal so. Willst du nun meine Hilfe oder nicht?«

»Ich kann sie nicht bezahlen.«

»Das brauchst du nicht. Ich bringe euch zu Karan, und was an Unkosten entsteht, werde ich schon irgendwie auftreiben.« Er grinste. »Ich bin Geschäftsmann. Manchmal muß man Spesen in Kauf nehmen.«