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»Und wo liegt dein Gewinn?« fragte Tally lauernd.

»Du bist ein Feind der Töchter des Drachen, oder?« Wellers Grinsen wurde noch breiter. »Alles, was ihnen schadet, nutzt mir. Ich lebe von Informationen. Außerdem«, fügte er hinzu, »gefällst du mir. Du bist eine hübsche Frau.«

Tally schürzte geringschätzig die Lippen. »Ich weiß, Weller. Aber wenn du das denkst, was ich annehme, dann schlag es dir aus dem Kopf - oder ich tue es.« Sie sah Weller scharf an, und trotz der halb scherzhaften Wahl ihrer Worte mußte etwas in ihrem Klang gewesen sein, das sein Grinsen gefrieren ließ. Fast ohne es selbst zu merken, wich er ein kleines Stück vor ihr zurück, bis er gegen die steinerne Brüstung des Daches stieß. Als er weitersprach, klang seine Stimme merklich kälter, und es war sicher kein Zufall, daß er abrupt das Thema wechselte:

»Da ist noch etwas, Tally. Du und dein Waga-Freund, ihr seid zu auffällig. Auf eure Köpfe steht eine Menge Geld. Jeder kleine Spitzel in Schelfheim hat eure Beschreibung. So, wie ihr ausseht, kommt ihr keine zwei Meilen weit.«

»Und was schlägst du vor?« fragte Tally zornig. »Soll ich Hrhon schwarz anmalen und als Hornkopf verkleiden oder mir einen Bart wachsen lassen?« Weller reagierte nicht auf ihren Sarkasmus.

»Zuallererst einmal gibst du mir dein Schwert«, sagte er ernst. »Hier in Schelfheim tragen Frauen keine Waffen, außer sie gehören zur Garde oder den Töchtern des Drachen. Und du brauchst andere Kleider. Unten im Haus sind Röcke und Mäntel, die dir passen müßten. Und wir müssen dein Haar verbergen.«

»Was ist so auffällig daran?« fragte Tally.

»Es ist zu lang«, erwiderte Weller. »Seit ein paar Jahren ist es Mode geworden, daß die Weiber hier das Haar kürzer tragen als die Männer. Manche scheren sich sogar die Schädel.«

»Alle?«

»Natürlich nicht alle«, sagte Weller ungeduldig. »Aber viele, und alle, die etwas auf sich halten. Aber wir müssen vorsichtig sein. Je weniger du auffällst, desto besser. Die Stadtgarde wird herumschwirren wie ein Bienenschwarm, und sich jeden sehr gründlich ansehen, der aus dem Süden kommt. Und wenn ich weiß, daß eine gewisse Kriegerin und eine flachgesichtige Riesenschildkröte gesucht werden, wissen sie es bestimmt. Du mußt dich von Hrhon trennen.«

»Niemals«, widersprach Tally impulsiv, aber Weller schien mit dieser Reaktion gerechnet zu haben, denn er hob beschwichtigend die Hand, noch bevor sie das Wort vollends ausgesprochen hatte, und fügte hinzu: »Natürlich nur für eine Weile. Ihr könnt auf keinen Fall zusammen gehen. Es gibt ein paar Wagas in der Stadt - nicht sehr viele, aber doch nicht so wenige, daß sein Anblick allzu großes Aufsehen erregen würde. Wir machen einen Ort aus, an dem ihr euch treffen könnt.« Er lächelte. »Die Idee stammt übrigens von Hrhon. Ich habe mit ihm gesprochen, ehe ich heraufgekommen bin.«

Tally zögerte einen Moment zu antworten. Alles in ihr sträubte sich ganz instinktiv gegen die Vorstellung, sich von Hrhon zu trennen, und sei es nur für wenige Stunden. Aber wahrscheinlich hatte Weller recht. Immerhin hatte er praktisch auf den ersten Blick gewußt, wen er vor sich hatte.

Hätte sie ihn nur ein wenig länger gekannt, wäre es ihr nicht so schwer gefallen, ihm zu trauen. Aber so wenig, wie Weller aus ihr schlau wurde, so wenig wußte sie wirklich, woran sie mit ihm war. Sie hatte gelernt, jeden Fremden zuerst einmal als Feind einzustufen, und mehr als einmal in den letzten vierzehn Monaten hatte ihr dies das Leben gerettet. Aber sie hatte auch längst begriffen, daß Weller in Wahrheit alles andere als der kleine Gauner war, als der zu erscheinen er sich Mühe gab. Und irgendwann mußte sie schließlich damit anfangen, einem Fremden zu trauen... Schweren Herzens nickte sie. »Gut, Weller. Ich traue dir. Aber wenn du mich hintergehst -«

»Schneidest du mir die Kehle durch und machst aus meiner Zunge eine Krawatte, ich weiß«, unterbrach sie Weller. Er seufzte. »Weißt du was, Tally? Ich glaube, wir werden noch gute Freunde. Vorausgesetzt, wir bleiben lange genug am Leben.«

~ 6 ~

Tally kam sich reichlich albern vor in den Kleidern, die Weller für sie herausgesucht hatte. Die Kleiderkammer des Hauses war gut gefüllt gewesen; trotz seiner exponierten Lage mußten seine Besitzer sehr wohlhabend sein. Tally hatte noch nie jemanden getroffen, der mehr als fünf oder sechs Kleider und allenfalls noch ein besonders prachtvolles Festgewand besaß, aber hier gab es gleich Dutzende, und wie Weller erklärte, war an dieser Tatsache nichts Besonderes. Schelfheim war eine reiche Stadt, in der reiche Menschen wohnten.

Aber trotz der großen Auswahl hatte Tally nichts gefunden, was ihr zusagte. Mit Ausnahme eines schweren wollenen Mantels - den Weller ihr jedoch sofort aus der Hand riß und erklärte, so etwas würde höchstens eine Küchenmagd tragen, und er verstünde überdies gar nicht, wie er sich in die Kleiderkammer verirrt hatte - waren die Röcke, Mäntel und Kleider allesamt dünne, zum Teil beinahe durchsichtige Fetzchen, derartig mit Borden, Spitzen, Pailletten, Puffärmeln und unbequemen hochgesteckten Kragen besetzt, daß es unmöglich schien, sich vernünftig darin zu bewegen.

Als sie schließlich neben Weller das Haus verließ, trug sie ein dünnes blauseidenes Nichts, das unter dem Mantel unentwegt raschelte und knisterte und sie bei jedem Schritt behinderte, dazu ein goldbesticktes Kopftuch, das ihr Haar verbarg, und Schuhe, die ein Alptraum waren - die Absätze waren so hoch wie ihr kleiner Finger und wenig dicker als eine Nadel; wenn sie versuchen sollte, damit auch nur einen Schritt zu rennen, mußte sie unweigerlich auf die Nase fallen. Tally fragte sich vergeblich, was Menschen dazu bringen mochte, sich auf derart unpraktische Weise zu kleiden.

Die Straßen waren voller Toter, als sie das Haus verließen. Es war hell geworden; denn Weller hatte darauf bestanden, daß sie warteten, bis die Sonne vollends aufgegangen war, um nicht nur aus Versehen von der Garde für versprengte Überlebende des Plündererheeres gehalten und kurzerhand niedergemacht zu werden. Mit Anbruch des Tages schien die schlimmste Wut des Feuers gebrochen zu sein; aber vielleicht war das auch nur eine Täuschung, weil das Licht der Morgensonne die Glut der tobenden Brände zu überstrahlen begann. Schelfheim war jetzt vollends von einem Halbkreis aus weißer und roter Glut und schwarzem Qualm eingeschlossen, und manchmal hörte man noch Kampflärm mit dem Wind heranwehen.

Tally versuchte, die Bilder zu verdrängen, die ihre Phantasie zu den Lauten erschuf, aber ganz gelang es ihr nicht - kurz, bevor sie das Haus verlassen hatten, war sie noch einmal auf das Dach hinaufgegangen und hatte nach Westen geblickt, und was sie gesehen hatte, hatte sie schlichtweg mit Entsetzen erfüllt. Die Klorschas waren zurückgedrängt worden, aber die Garde gab sich nicht damit zufrieden, sie aus der Stadt zu scheuchen, sondern versuchte die Slambewohner in die Flammen zurückzujagen; auf dem schmalen unbebauten Streifen zwischen Schelfheim und dem Slam tobte eine Schlacht, die von beispielloser Härte war.

Tally maßte sich kein Urteil an; sie war eine Fremde in dieser Welt und wußte nichts von ihren Regeln und Gesetzen. Aber sie empfand ein tiefes, lähmendes Entsetzen, das mit jedem Augenblick schlimmer wurde. Und sie fühlte sich einsam. Erst jetzt, als sie das Haus verlassen hatten und sich nach Norden bewegten, begriff sie wirklich, wie sehr sie sich Weller ausgeliefert hatte.

Hrhon fehlte ihr. Sie war waffenlos und allein, und sie fühlte sich verloren. Wer sagte ihr, daß dies alles nicht ein raffiniert eingefädelter Plan Wellers war, sie von dem Waga zu trennen und die Belohnung einzustreichen, die auf ihren Kopf stand? Tausend Goldheller waren ein Vermögen, selbst in einer Stadt wie dieser.