Jandhi deutete auf Weller. »Ist das dein Bruder, Kind?« fragte sie.
Tally nickte.
»Dann sind wir hier richtig«, fuhr Jandhi fort. Sie ließ endlich Tallys Hand los, ging mit zwei raschen Schritten um den Tisch herum und sah Weller vorwurfsvoll an. »Du bist leichtsinnig, deine Schwester allein draußen herumlaufen zu lassen, weißt du das?« sagte sie. »Einem Kind wie ihr, und noch dazu einem, das fremd in der Stadt ist, kann hier alles mögliche zustoßen. Man sollte dich für deinen Leichtsinn bestrafen.« Sie schüttelte tadelnd den Kopf, machte eine unwillige Geste, als Weller widersprechen wollte, und wandte sich an den Mann auf der anderen Seite des Tisches. »Gibt es Schwierigkeiten, Kommandant?«
»Nein«, antwortete der Mann hastig. »Das heißt... doch.«
»Was denn nun?« Jandhi runzelte unwillig die Stirn. »Wo ist das Problem - diese beiden sind von den Klorschas aus ihrem Haus vertrieben worden und brauchen Passierscheine, um zu ihren Verwandten in den Norden zu kommen.«
»Das... das stimmt schon«, antwortete der Mann. Er wurde immer nervöser. »Jedenfalls ist es das, was der Bursche da -« Er deutete auf Weller. »- behauptet. Aber so einfach ist das nicht. Ich muß erst sehen, ob -«
»Wie wäre es«, unterbrach ihn Jandhi scharf, »wenn du einmal hinausgehen und auf die Straße blicken würdest, Kerl? Vor deiner Kommandantur stehen noch drei Dutzend andere, die das gleiche Problem haben. Ein paar von ihnen sind verletzt. Wie würde es dir gefallen, wenn deine Vorgesetzten erführen, daß du die Leute, von deren Steuern sie leben, stundenlang warten läßt?«
Der Mann schrumpfte ein Stück in sich zusammen. »Aber... aber meine Vorschriften sagen -«
»Vergiß deine Vorschriften, Kerl!« Jandhi geriet sichtlich in Rage. »Gib den beiden einen Passierschein, und zwar auf der Stelle!«
»Wie Ihr befehlt, Herrin.«
Jandhi schnaubte. »In der Tat, ich befehle es.« Zornig wandte sie sich wieder an Tally. »Diese Narren! Eines Tages werden die Klorschas ganz Schelfheim überrennen, und die Leute werden es nicht einmal merken, weil sie die Nasen nicht aus ihren Gesetzbüchern bekommen!« Sie seufzte, beugte sich ungeduldig vor und stützte sich auf der Tischkante ab, während der Kommandant hastig eine Schreibfeder nahm und einige Zeilen auf ein Stück Pergament kritzelte. Jandhi riß es ihm aus den Händen, kaum daß er Zeit gefunden hatte, sein Siegel darunter zu setzen, faltete es achtlos in der Mitte zusammen und gab es Weller.
»Hier«, sagte sie. »Nimm. Und denk in Zukunft daran, deine Schwester nicht mehr allein zu lassen.« Weller nickte. Sein Blick flackerte wie der eines Wahnsinnigen. Feiner Schweiß perlte auf seiner Stirn. »Das ist... sehr freundlich von Euch, Herrin«, stammelte er. »Ich... ich danke Euch.«
Jandhi machte eine ungeduldige Handbewegung. »Bedank dich bei deiner Schwester«, erwiderte sie grob. »Ich helfe ihr, nicht dir. Im Grunde hast du es nicht besser verdient, Kerl. Predigen wir nicht seit Jahren, daß ihr die Häuser im Westen aufgeben und die Straßen zumauern sollt? Aber Narren wie du sind ja nicht zur Vernunft zu bringen, scheint mir. Nora erzählt, du willst das Haus wieder aufbauen? Stimmt das?«
Weller tauschte einen raschen, sehr nervösen Blick mit Tally. »Ich... denke darüber nach«, gestand er zögernd. »Mein Geschäft ist hier im Westen, und -«
»Dein Geschäft nutzt dir nichts, wenn man dir die Kehle durchgeschnitten hat«, unterbrach ihn Jandhi grob. »Jetzt bring erst mal dieses Kind in Sicherheit, und dann überlege dir gut, wo du deinen Handel wieder aufbauen willst. Es ist möglich, daß wir es eines Tages leid sind, das Leben guter Krieger zu verschwenden, um Narren wie dich zu retten.«
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Weller hastig. »Und ich... ich danke Euch. Auch im Namen meiner Schwester.«
»Schon gut«, murrte Jandhi. »Jetzt geh. Zwei Straßen südlich findest du einen Trägerstand. Sag dem Verleiher, daß Jandhi dich schickt, dann wirst du das erste Tier bekommen, das frei ist.«
Weller nickte abermals, drehte sich mit einer fahrigen Bewegung herum und lief so schnell aus dem Zimmer, daß es fast einer Flucht gleichkam. Seine Angst war nicht mehr zu übersehen.
Tally zögerte, ihm zu folgen. Alles in ihr schrie danach, aus der Nähe dieser beiden geheimnisvollen Frauen zu verschwinden, von denen sie immer noch nicht wußte, wer sie waren, die aber über eine ungeheure Macht zu verfügen schienen. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, daß es ungeheuer wichtig war, mehr über sie zu erfahren.
»Geh ruhig, Kind«, sagte Jandhi, die ihr Zögern wohl falsch deutete. »Wenn dein Bruder tut, was ich sage, seid ihr in wenigen Stunden bei euren Verwandten.«
»Danke, Herrin«, sagte Tally. »Ich... ich weiß gar nicht, wie ich Euch -«
»Du brauchst mir nicht zu danken«, unterbrach sie Jandhi. »Es ist unsere Aufgabe, für Ordnung zu sorgen, oder? Und nun geh. Wer weiß - vielleicht sehen wir uns wieder. Wo im Norden wohnen eure Verwandten?«
»Ich weiß nicht genau«, sagte Tally, was der Wahrheit entsprach. »Irgendwo am... am Hafen, sagte Weller.«
»Am Hafen?« Zwischen Jandhis Augen entstand eine steile Falte. »Keine gute Gegend. Aber sie paßt zu deinem Bruder.« Sie beendete das Gespräch mit einer bestimmenden Geste, lächelte aber noch einmal, als sich Tally rückwärts gehend aus dem Zimmer entfernte. Erst, als die Tür hinter ihr zuschlug, wagte es Tally, sich wieder aufzurichten und erleichtert aufzuatmen. Obwohl eigentlich nichts Besonderes passiert war, hatte sie das bestimmte Gefühl, mit knapper Not einer entsetzlichen Gefahr entronnen zu sein.
Weller hatte das Gebäude bereits verlassen und wartete auf der Straße auf sie, ein Stück abseits der Schlange, und noch immer bleich wie Kalk vor Schrekken. Aber in seinen Augen flammte es zornig auf, als Tally an den Wachen vorbei aus der Tür trat und auf ihn zuging.
»Bist du wahnsinnig geworden?« fauchte er. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst mit niemandem sprechen? Und du -«
»Sie haben mich angesprochen«, unterbrach ihn Tally. »Was sollte ich tun?«
»Oh verdammt, du bist ja noch verrückter, als ich geglaubt habe!« Weller keuchte, als litte er Schmerzen. »Weißt du überhaupt, wer das war?«
Tally nickte. »Jandhi«, sagte sie. »Das war der Name, mit dem sie ihre Begleiterin ansprach.«
»Jandhi, ja«, schnaubte Weller wütend. »Jandhi san Sar, die heilige Mutter der Töchter des Drachen in Schelfheim. Die Frau, die ihre rechte Hand opfern würde, um dich in die Finger zu bekommen!«
Tally erschrak nicht einmal sehr. Sie hatte geahnt, daß es mit Jandhi und Nirl etwas Besonderes auf sich hatte, und ein Teil von ihr hatte wohl auch gespürt, daß diese Frau mehr als nur irgendeine einflußreiche Persönlichkeit Schelfheims war. Trotzdem spürte sie, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich. Unter dem Kleid begannen ihre Knie ein wenig zu zittern.
»Die... Töchter des Drachen?«wiederholte sie unsicher.
Weller grinste böse. »Ja - und jetzt frag' mich, warum ich so erschrocken war. Beim Schlund - ich habe mich schon auf dem Schafott gesehen, als du mit den beiden hereingekommen bist.«
»Na, dann sind wir ja quitt«, sagte Tally spitz. Ihr Schrecken schlug in Zorn auf Weller um. »Deine Idee, einfach so in die Kommandantur zu spazieren und dir einen Passierschein geben zu lassen, war ja wohl auch nicht so gut.«
»Unsinn!« fauchte Weller. »Ich war dabei, mit diesem Narren über die Höhe des Bestechungsgeldes zu verhandeln, als du hereingeplatzt bist. Jetzt ist er zornig und wird uns Ärger machen, wo er nur kann.«