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Während Tally unsicher auf den halb geöffneten Rückenschild des Trägers hinaufkletterte, begann der Führer mit den Fingerspitzen über den Schädel des Hornkopfs zu fahren. Seine Hände bewegten sich dabei schnell und geschickt wie die eines Künstlers, der ein empfindliches Instrument spielt; mal zog er schnelle, zitterige Linien, mal tippte er nur mit den Fingerspitzen auf das schwarze Chitin, zum Abschluß preßte er die Handfläche auf das dreieckige Insektenmaul des Scheusales.

»Was tut er da?« fragte Tally halblaut.

Weller machte eine erschrockene Bewegung, still zu sein, beugte sich aber trotzdem zu ihr herüber und antwortete: »Er sagt ihm, wohin er uns bringen soll. Wenn er fertig ist, gibt es nichts, was den Träger noch vom Weg abbringen könnte. Aber still jetzt. Du stellst zu viele dumme Fragen.«

Der Führer war mittlerweile fertig geworden und ein Stück zurückgetreten. Einen Moment lang verharrte der Träger noch in seiner reglosen, nach vorne gebeugten Haltung. Dann richtete er sich wieder auf, hob den Kopf und spreizte die Flügeldecken noch weiter auseinander, bis sie im rechten Winkel vom Körper abstanden und er seine beiden Fahrgäste in der Balance hatte. Tally und Weller saßen nun schräg hinter seinem stacheligen Schädel, sicher gehalten von den natürlichen Vertiefungen seines Panzersattels, während ihre Beine frei in der Luft baumelten.

Tally begann sich unwohl zu fühlen. Außerdem kam sie sich lächerlich vor, auf den auseinandergeklappten Flügeldecken eines Riesenkäfers zu hocken wie ein Korb voller Früchte neben dem Rücken eines Lastesels. Weller ergriff mit der linken Hand eines der gebogenen Schädelhörner des Trägers und bedeutete ihr mit Blicken, es ihm gleichzutun. Tally gehorchte, und kaum hatte sie das Horn aus schwarzem Chitin berührt, da setzte sich der Hornkopf in Bewegung, langsam und schaukelnd wie ein überladenes Kamel zuerst, dann, als er aus der Menschenmenge heraus war und seine Beine in den gewohnten Takt gefunden hatten, mit erstaunlichem Tempo. Tally verspürte ein leises Ekelgefühl. Die Art, in der sich die Beine des Hornkopfes bewegten, erinnerten sie stark an das Laufen einer Spinne.

Nach wenigen Augenblicken erreichten sie eine breitere, von zweigeschossigen steinernen Häusern gesäumte Straße. Tally sah, daß in ihrer Mitte ein doppelter, gut dreifach mannsbreiter Streifen dunklerer Steine in das Straßenpflaster eingelassen war, auf dem sich zahlreiche Trägerinsekten bewegten - und zwar in einer Ordnung, die sie überraschte. Das hektische Hin und Her der Käfer wirkte chaotisch, aber es war das Gegenteiclass="underline" alle Träger, die sich nach Norden bewegten, hielten sich auf dem linken Streifen während die westwärts eilenden - es waren erheblich weniger - die rechte Straßenseite benutzten. Niemals berührten sich die Insekten dabei, auch wenn es so aussah, als müßten sie mit ihren weit auseinandergeklappten Flügeldecken die Straße leerfegen wie mit Sensen.

Ihr eigener Träger wartete reglos, bis er eine Lücke in dem schwarzen Strom der Insekten erspähte, flitzte mit erstaunlicher Behendigkeit los und reihte sich ein. Tally hätte sich gerne mit Weller unterhalten, denn es gab buchstäblich Tausende von Dingen, die sie sah und nicht verstand, aber das Klicken und Knistern und Rascheln der wirbelnden Insektenbeine schwoll zu einem derartigen Lärm an, daß sie hätten schreien müssen, um sich zu verständigen. Die Häuser flogen nur so an ihnen vorüber. Wenn sie ihre Geschwindigkeit beibehielten, schätzte Tally, dann mußten sie die knapp zwanzig Meilen bis zum Hafen in weniger als zwei Stunden zurückgelegt haben.

Aus den zwei Stunden wurden vier, denn die Straßen, die der Träger nahm, waren nicht immer so breit wie diese, und mehrmals stockte der klickende Fuß der schwarzen Riesenkäfer, wenn sie an Stellen kamen, an denen sich die Straßen kreuzten. Einmal mußten sie eine geschlagene halbe Stunde warten, weil ein Stück vor ihnen einer der Riesenkäfer von der Bahn abgekommen und wie ein lebendes Geschoß in den entgegengesetzten Laufstrom hineingerast war, was ein heilloses Chaos hervorgerufen hatte. Soweit Tally erkennen konnte, hatte es Verletzte, vielleicht sogar Tote unter den Männern und Frauen gegeben, die unsanft von den Rücken ihrer Lasttiere heruntergeschleudert worden waren.

Als sie sich ihrem Ziel zu nähern begannen, hörte Tally ein dumpfes, an- und abschwellendes Rauschen. Zu Anfang war es so leise, daß es fast im Klicken und Rasseln des Insektenstromes unterging. Aber es schwoll an, bis es das Chitinwispern der Träger zu übertönen begann, und nach einer Weile glaubte sie, den Boden unter den Füßen ihres Tieres im Rhythmus dieses Geräusches zittern zu fühlen.

»Was ist das, Weller?« schrie sie über den Lärm hinweg.

Weller drehte sich schwerfällig im Sattel herum.

»Was?« antwortete er schreiend. »Dieser Lärm?« Tally nickte, und Weller fuhr mit einer vagen Geste nach Norden hin fort: »Der Hafen. Mach dich auf eine Überraschung gefaßt! Und stell zum Teufel noch mal nicht so viele dumme Fragen. Wir fallen auf!«

Tally verbiß sich die wütende Antwort, die ihr auf der Zunge lag - schon allein, weil sie mit vollem Stimmaufwand hätte schreien müssen, um sie hervorzubringen.

Nach allem, was sie bisher mit Weller erlebt hatte, schien er höchst sonderbare Vorstellungen von der Bedeutung des Wortes unauffällig zu haben. Aber wenige Augenblicke später bog der Träger in eine schmale Seitenstraße ein, und was Tally sah, ließ sie ihre Verärgerung im Moment vergessen, denn unter ihnen lag der Hafen von Schelfheim.

Sie hatte sich bisher niemals Gedanken über die Bedeutung des Wortes Hafen gemacht; irgendwie hatten sich die beiden Vorstellungen, daß Schelfheim am Schlund lag und daß Wasser prinzipiell das Bestreben hatte, bergab zu fließen, in Tallys Bewußtsein nicht zu der Unmöglichkeit vereint, die sie darstellten. Bis jetzt.

Unter ihnen lag der Fluß, ein glitzerndes, eine halbe Meile breites Band, das wie mit einem ungeheuerlichen Lineal gezogen gerade nach Westen verlief, bis es sich im Häusermeer der Stadt verlor. Ein halbes Dutzend gewaltiger Brücken überspannte den Fluß. Seine Ufer waren gemauert, schräg abfallende, grünverkrustete Dämme, unter denen das Wasser mit unglaublicher Geschwindigkeit dahinschoß. Das dumpfe Donnern und Dröhnen, das sie hörte, überraschte sie jetzt nicht mehr, denn sie blickte geradewegs in den gigantischsten Wasserfall, den sie jemals gesehen hatte.

Sie waren dem Schlund jetzt sehr nahe, und eine Viertelmeile unter ihnen schoß das Wasser des Flusses schäumend und und donnernd ins Nichts, ein brüllender Strom, der mit der Geschwindigkeit eines Pfeiles in die große Leere hinausraste und zu weißglitzerndem Schaum wurde, ehe er seinen meilentiefen Sturz begann.

Der Boden unter den Füßen ihres Reittieres zitterte jetzt wirklich, und die Luft war so voller Feuchtigkeit, daß ihre Kleider schon nach Augenblicken dunkel und schwer zu werden begannen. Wasser sammelte sich in winzigen glitzernden Tröpfchen auf dem Chitinpanzer des Trägers.

Tally bemerkte es nicht einmal. Wie gebannt starrte sie auf das unglaubliche Bild, das sich ihr bot. Der Fluß hatte sich im Laufe der Jahrhunderttausende ein Stückweit ins Land hineingefressen, so daß der Wasserfall praktisch innerhalb der Stadt lag. Die Glocke aus sprühender Gischt mußte eine halbe Meile hoch sein, ein Bereich immerwährender Feuchtigkeit und nie endenden, entsetzlichen Lärms, in dem trotzdem Häuser und Straßen entstanden waren, von denen sich manche bis auf wenige Schritte an den Rand des Abgrundes herangetastet hatten.

Tally schauderte. Ein Gefühl eisiger Kälte durchflutete sie, und ganz plötzlich hatte sie Angst, panische Angst. Es war das erste Mal, daß sie den Schlund sah, wirklich sah, so nahe, daß sie nur noch wenige hundert Schritte hätte tun müssen, um ihn zu erreichen. Und obwohl ihr Leben in den letzten vierzehn Monaten keinem anderen Ziel mehr gedient hatte als genau diesen Schlund zu erreichen, entsetzte sie sein Anblick zutiefst.