Vor ihr lag der Rand der Welt, das große Nichts, die Leere, aus der alles Leben kam und in die es zurückkehrte, ein Abgrund, Meilen um Meilen um Meilen tief, und mit nichts anderem als nichts gefüllt. Wo Land sein sollte, erstreckte sich eine ungeheuerliche, blaugrün gemusterte Einöde, so entsetzlich, so unbeschreiblich tief unter der Klippe liegend, daß selbst das Wasser Stunden brauchen mußte, es in seinem Sturz zu erreichen.
Für einen ganz kurzen Moment war Tally sicher, daß Maya gelogen hatte. Es war unmöglich, daß dort unten irgend etwas existierte, und wenn, war es noch unmöglicher, daß irgend etwas den Weg hinauf aus dieser Tiefe schaffte. Nicht einmal ein Drache.
Dann bewegte sich der Träger in eine weitere Gasse hinein, und mit dem unmittelbaren Anblick des Schlundes verschwand auch die Angst, mit dem er sie erfüllt hatte. Tally atmete hörbar auf. Der feine Sprühregen des Wasserfalles hatte sie bis auf die Haut durchnäßt, und plötzlich spürte sie, wie kalt es geworden war. Sie zitterte am ganzen Leib. Aber sie versuchte tapfer, sich einzureden, daß es wirklich nur an der Kälte und der alles durchdringenden Feuchtigkeit lag. Mit aller Macht kämpfte sie ihre Furcht nieder und versuchte, sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren.
Sie näherten sich jetzt dem eigentlichen Hafen, einem komplizierten System hintereinandergestaffelter riesiger Becken, deren Staumauern die Strömung des Flusses schrittweise brachen, bis sie weit genug gebändigt war, nicht jedes Schiff wie ein Spielzeug zu zermalmen. Trotzdem waren die Schiffe, die auf den Wellen schaukelten, mit gewaltigen Ketten und Tauen gesichert. Die gemauerten Ufer waren hier mit einem komplizierten System aus stacheligen Rädern und Ketten übersät, das sich so weit in den Westen zog, wie Tally sehen konnte.
Sie fragte Weller nach dem Sinn dieser Konstruktion, und er erklärte ihn ihr: Schiffe, die nach Schelfheim fuhren, konnten sich der Strömung überlassen, bis sie in einem der Hafenbecken aufgefangen wurden, während das Fahren in südlicher Richtung weitaus schwieriger war. Segel oder Ruder und auch beides zusammen hatten keine Chance gegen den Sog der Strömung, so daß Schiffe, die Schelfheim wieder verlassen wollten, gezogen werden mußten, und zwar mehrere Meilen landeinwärts, bis weit hinüber über die Klippe, die den Schelf vom eigentlichen Land trennten,
Wellers Erklärung erfüllte Tally mit Staunen, aber auch mit einer tiefen, jäh aufflammenden Wut. Sie hatte Städte verbrannt, deren Bewohner so leichtsinnig gewesen waren, einen Flaschenzug zu erfinden. Und in dieser Stadt, die unter dem Befehl der Drachenreiterinnen stand, sah sie Maschinen, die an ein Wunder grenzten.
Irgendwie holte diese Erkenntnis Tally in die Wirklichkeit zurück. Die Ehrfurcht, mit der sie der Anblick des Schlundes erfüllt hatte, verkroch sich in einen entlegenen Winkel ihres Bewußtseins, und ganz plötzlich wurde sie sich wieder des Grundes bewußt, aus dem sie überhaupt hier war.
Aber sie hatten ihr Ziel jetzt auch fast erreicht. Der Träger trippelte ungeschickt eine gewundene Treppe hinab, näherte sich dem Rand eines der gewaltigen Hafenbecken und hielt plötzlich an. Weller sprang mit einer geschmeidigen Bewegung von seinem Panzer herunter, duckte sich unter seinem Schädel hindurch und streckte die Arme aus, um Tally beim Absteigen zu helfen.
Tally ignorierte ihn, stieg umständlich von ihrem Sitz herab und trat ein paar Schritte auf der Stelle, um ihre vom langen reglosen Sitzen steif gewordenen Muskeln zu durchbluten. »Wo ist Karans Haus?« fragte sie.
Weller zog eine Grimasse. »Hier nicht«, antwortete er. »Wir haben noch einen kleinen Spaziergang vor uns - nicht lang. Drei, vielleicht vier Stunden.«
Tally starrte ihn wütend an. »Was soll das?« fragte sie. »Wenn ich einen Fremdenführer gebraucht hätte, der mir die Sehenswürdigkeiten von Schelfheim zeigt, hätte ich einen engagiert, Weller. Warum hast du uns hierher bringen lassen, wenn Karan drei Stunden entfernt wohnt?«
»Deshalb.« Weller deutete mit einer Kopfbewegung auf den Träger, der jetzt schwerfällig seine Flügeldecken zusammnenfaltete und sich auf der Stelle zu drehen begann. »Ich traue deiner Freundin Jandhi nicht, weißt du? Diese Biester sind zwar strohdumm, aber sie merken sich jeden Weg, den sie einmal gegangen sind. Wenn er zurück ist, braucht Jandhi nur auf seinen Rücken zu steigen, und er führt sie hierher.« Er grinste. »Aber bis dahin sind wir längst Meilen entfernt.«
»Und Hrhon?« fragte Tally. »Wir wollten uns hier mit ihm treffen.«
»Er kann frühestens beim Sonnenuntergang hier sein«, antwortete Weller ungeduldig. »Er ist ein Waga, vergiß das nicht. Nicht-Menschen bekommen keine Träger in Schelfheim. Er muß wohl oder übel laufen. Aber wir sollten die Zeit nutzen, zu Karan zu gehen und mit ihm zu reden. Wenn wir ihn finden, heißt das.«
Tally starrte ihn wütend an, aber sein Grinsen verriet ihr, daß er zumindest den letzten Satz nur gesagt hatte, um sie zu reizen. So schwieg sie und trat nur finsteren Blickes neben ihn, als er sich umwandte und in die Richtung zu gehen begann, aus der sie gerade gekommen waren.
Sie konnte Wellers Vorsicht sogar verstehen - auch ihr war die Freundlichkeit, mit der Jandhi sie behandelt hatte, noch immer ein Rätsel, und es hätte sie keineswegs überrascht, wenn Weller recht gehabt hätte und dies alles wirklich nur eine geschickt aufgestellte Falle war, in der sie und Hrhon sich fangen sollten. Trotzdem nahm ihre Verärgerung noch zu; denn sie gingen mindestens eine Meile auf genau dem Weg zurück, den der Träger sie hergebracht hatte, ehe sie schließlich nach Norden abbogen und sich wieder dem Schlund näherten. Tally fragte sich, warum sie nicht einfach vom Rücken des Tieres gesprungen waren, als sie an dieser Stelle vorbeikamen, und sie stellte die gleiche Frage Weller, der sie aber nur als sei sie nicht ganz richtig im Kopf, anstarrte, und es vorzog, gar nicht zu antworten.
Je weiter sie sich vom Hafen entfernten, desto zahlreicher wurden die Menschen, denen sie begegneten.
Wenn sich die Häuser in der Nähe des Wasserfalles auch aus reiner Platznot bis an den Abgrund herangeschoben hatten, so spielte sich das Leben dort doch zum allergrößten Teil hinter ihren Mauern ab - wer hatte schon Lust, dachte Tally, bei jedem Atemzug Wasser zu atmen und ständig das Gefühl zu haben, sich auf den Grund eines besonders dünnflüssigen Meeres verirrt zu haben.
Zwei Meilen westlich des Hafens war dies anders. Zwar übertönte das Grollen und Dröhnen des Wasserfalls auch hier jeden anderen Laut, und wenn sie sich darauf konzentrierte, so konnte sie auch hier noch das Zittern und Beben des Bodens spüren, aber die Straßen waren doch wieder voller Leben. Weller wurde immer schweigsamer, je weiter sie in diesen Teil der Stadt eindrangen, und er ging jetzt dichter neben ihr.
Tally konnte ihn gut verstehen. Was sie sah, erschreckte die Frau in ihr, und es ließ die Kriegerin vorsichtiger werden. Die Häuser waren hier allesamt alt und grau und so schmutzig, daß der Slam dagegen wie eine gepflegte Parklandschaft wirken mußte, und manche Straßen waren so mit Abfällen übersät, daß sie über Berge von Müll und Unrat steigen mußten, wollten sie nicht große Umwege in Kauf nehmen. Es gab fast ebensoviele Ratten wie Menschen - und beinahe keine Frauen.
Es dauerte eine Weile, bis Tally dieser Umstand auffiel, und eigentlich waren es auch eher die teils verwunderten, teils aber auch eindeutig gierigen Blicke, die ihr folgten, die sie überhaupt darauf aufmerksam werden ließ, daß hier fast nur Männer zu sehen waren. Von den beiden einzigen Frauen, die ihnen in den gut zwei Stunden ihres Marsches begegnete, war die eine uralt, eine Greisin, die sich schwer auf einen Stock stützte und trotzdem kaum vorwärts kam, die andere etwa in Tallys Alter, aber in Männerkleidung gehüllt und bis an die Zähne bewaffnet. Ihr Gesicht war vernarbt und fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Sie glaubte plötzlich besser zu verstehen, warum Weller sie gewarnt hatte, in dieser Stadt offen sichtbar eine Waffe zu tragen. Und sie sehnte sich jetzt mehr denn je danach zurück.