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Als sie nach einer Weile von der belebten Hauptstraße abbogen und eine Abkürzung durch eine kaum meterbreite Gasse nahmen, befahl sie Weller mit einer Geste stehenzubleiben.

»Mein Schwert«, sagte sie.

Weller zögerte. »Du erregst auch so schon genug Aufsehen«, sagte er, »Ich halte es für keine gute Idee, wenn du einen Waffe trägst.«

»Ich schon«, erwiderte Tally kurz angebunden. »Außerdem werde ich es unter dem Mantel verstecken. Aber diese Gegend gefällt mir nicht. Hier läuft zu viel Kroppzeug herum.«

Weller lachte. »Dann warte, bis wir in der Altstadt sind«, sagte er, griff aber gehorsam unter sein Cape und zog Tallys Schwert hervor. Sie schüttelte den Kopf, als er ihr die Klinge reichen wollte.

»Das andere«, sagte sie. »Das, das ich dem Katzer abgekauft habe. Das da kannst du behalten.«

Weller gab sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu verhehlen. »Sagtest du nicht irgend etwas von einem Geschenk für mich?« fragte er schüchtern.

»Jandhi hat das gesagt, nicht ich«, verbesserte ihn Tally. »Geh zurück und beschwer dich bei ihr.«

Weller lächelte gequält, zog die Silberklinge unter dem Umhang hervor und sah stirnrunzelnd zu, wie sie es in den Waffengurt schob und beides umband. Ihr eigenes, altes Schwert hielt sie ihm hin. Weller schüttelte den Kopf, und Tally warf die Klinge achtlos zu Boden. Sie schloß ihren Mantel sorgfältig wieder, tastete durch den schweren Stoff nach der Waffe und rückte sie zurecht, so daß sie sie mit einem Griff ziehen konnte, der Stahl sich aber nicht zu deutlich unter dem Mantel abzeichnete.

»Ich halte das für keine gute Idee«, sagte er noch einmal. »Für eine Klinge wie die da schneidet man dir hier die Kehle durch.«

»Nicht, wenn ich sie in der Hand habe«, sagte Tally trocken. Sie wollte weitergehen, blieb aber nach einem halben Schritt abermals stehen und schlüpfte aus den Folterschuhen, die sie bisher tapfer getragen hatte. Der Stein unter ihren Füßen fühlte sich eisig an. Ihre Fußsohlen begannen fast sofort vor Kälte zu prickeln. Aber zum ersten Mal seit Stunden hatte sie wieder das Gefühl, sicher auf ihren eigenen Füßen zu stehen.

Weller seufzte. »Es hat wohl wenig Sinn, dich davon abhalten zu wollen, wie?«

»Sehr wenig«, antwortete Tally. »Außerdem habe ich den Eindruck, daß ich sowieso auffalle. Also will ich mich wenigstens wehren können, wenn es sein muß.« Sie sah Weller auffordernd an. »Wie weit ist es noch?«

»Nicht sehr weit«, antwortete Weller. »Allerdings weiß ich nicht genau, wo ich ihn finde. Aber ich kenne jemanden, der uns hinführen wird«, fügte er hastig hinzu, als Tally ärgerlich die Brauen zusammenzog.

Sie gingen weiter. Die Kälte kroch eisig in Tallys nackten Beinen empor, und plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Die Gasse schien sich rings um sie herum zusammenzuziehen, wie ein steinernes Maul, das sie verschlingen wollte. Aber das vertraute Gewicht der Waffe an ihrer Seite beruhigte sie.

Und - Tally wußte nicht, warum, aber sie war absolut sicher - sie hatte das ungute Gefühl, daß sie sie brauchen würde.

Sehr bald.

~ ~ ~

Das Mädchen war eingeschlafen. Die sanfte, sehr leise Stimme der fremden Frau hatte es sacht hinübergeschaukelt ins dunkle Reich des Schlafes, und als es aufschrack und - halb erschrocken, halb erleichtert, sich nicht allein wiederzufinden, wie es im allerersten Moment befürchtet hatte - in ihr Gesicht blickte, spürte es, daß es sehr lange geschlafen haben mußte. Im Osten begann der Himmel bereits grau zu werden; die Nacht war zu Ende. Die Geschichte der Frau noch nicht, das spürte es ganz genau, denn obwohl es nur eine ausgedachte Geschichte war, die die dunkelhaarige Fremde sich zweifellos im gleichen Moment einfallen ließ, in dem sie sie dem Mädchen erzählte, hatte sie einen Anfang gehabt und eine Fortsetzung, und sie mußte ein Ende haben.

Daß sie nicht wahr war, störte das Mädchen nicht sehr; ganz im Gegenteil - wäre sie wahr gewesen, hätten sie all die sonderbaren und fremdartigen Dinge sicherlich erschreckt. So aber erweckten sie nur sein Interesse, und erfüllten es allenfalls mit einem schwachen, eher mohligen Schaudern.

Und sie halb ihm zu vergessen. Die Stadt brannte noch immer, obwohl es hinter den geschwärzten Mauern eigentlich lange nichts mehr geben konnte, was noch zu verbrennen war.

Aber dann und wann trug der Wind noch immer den rußigen Geruch des Todes heran, und der Himmel über der Stadt lohte rot.

Hastig wandte das Mädchen den Blick. Es wollte nicht erinnert werden. Es wußte, daß der Schmerz kommen würde, so wie er Talianna eingeholt hatte, das Mädchen aus der Geschichte der Fremden. Aber es fühlte sich noch nicht stark genug, ihn zu ertragen.

Sie setzte sich auf, zog fröstelnd die Knie an den Körper und rieb mit den Händen über ihre nackten Oberarme. Der Morgen war kalt.

Nach einer Weile stand die fremde Frau auf, löste ihren Mantel von den Schultern und legte ihn dem Mädchen über.

Das Kind bedankte sich mit einem scheuen Lächeln und kuschelte sich eng in das wollene Kleidungsstück.

»Hat sie Karan gefunden?« fragte es.

»Tally?« Die Fremde nickte. »Oh ja. Ihn und andere.«

»Und hat er getan, was sie von ihm wollte.«

Die dunkelhaarige Frau lächelte. »Sicher. Wenn auch auf andere Weise, als Tally sich vorgestellt hatte. Aber die Geschichte ist noch lang. Und du bist müde. Schlaf ein wenig. Ich werde auf dich aufpassen.«

Das Mädchen schüttelte fast erschrocken den Kopf. Es wollte nicht schlafen. Wenn es schlief, würden die Träume kommen.

Es haßte Angst. »Rede weiter«, sagte es. »Bitte. Was geschah mit Hrhon und Weller?«

Die Fremde zögerte. Aber dann setzte sie sich wieder auf den Felsen, auf dem sie die ganze Nacht gehockt hatte, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und beugte sich leicht vor, ehe sie zu erzählen begann.

»Sie brauchten länger, Karan zu finden, als Weller geglaubt hatte. Bald wurde es wieder dunkel, und Tally, die nun schon seit zwei Tagen und einer Nacht nicht geschlafen hatte, wurde sehr müde, und außerdem hatte sie Angst, wie du dir sicher vorstellen kannst. Also schlug Weller vor, daß er sich allein auf die Suche nach Karan machen wolle, während Tally in einem Gasthaus auf ihn wartete...

4. KAPITEL - KARAN

~ 1 ~

Sie war so müde, daß es ihr schwerfiel, dem Treiben in der Schänke die gebührende Aufmerksamkeit zu zollen.

Weller hatte sie gewarnt, hier hinein zu gehen, selbst in Begleitung, und erst recht, allein hier zu bleiben, aber sie hatte auf die eine Warnung so wenig gehört wie auf die andere. Sie hatte zwei Tage und eine Nacht nicht geschlafen, hatte eine mittlere Schlacht miterlebt, um ihr Leben kämpfen und stundenlang vor einem Feuer davonlaufen müssen - mehr, als selbst jemand mit ihrer nicht unbeträchtlichen Kondition so einfach wegstecken konnte, ohne dafür früher oder später zahlen zu müssen.

Sie wollte einfach ausruhen, und ein Ort wie dieser schien ihr noch immer geeigneter als die Straße; denn zumindest in diesem Punkt hatte sie Weller uneingeschränkt recht geben müssen: der Norden Schelfheims war eine Gegend, in der selbst sie es sich gründlich überlegte, nach Dunkelwerden allein auf die Straße hinauszutreten.