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»In Ordnung«, unterbrach ihn Tally. »Führe mich hin. Aber ich kann dich nicht bezahlen.«

»Das brauchst du auch nicht«, sagte der Blonde. Er grinste. »Eigentlich bin ich Straßenräuber, weißt du? Tagsüber schneide ich den Leuten die Kehle durch. Aber ab und zu macht es mir Spaß, eine gute Tat zu tun.«

Tally war nicht sicher, ob die Worte des Blonden tatsächlich so scherzhaft gemeint waren, wie sie klangen.

Aber sie fragte ihn auch nicht danach. Sie war einfach froh, in dieser Stadt voller Wahnsinniger und Mörder auf einen Menschen getroffen zu sein, der freundlich zu ihr war.

Sie sprachen sehr wenig, während sie sich wieder vom Schlund entfernten, obwohl Tally zu spüren glaubte, daß ihr vermeintlicher Retter vor Neugier schier aus den Nähten platzte. Aber ihr fielen auch die raschen, nervösen Blicke auf, die er immer wieder in die Runde warf, und die Art, auf die er die Hand auf dem Schwert ruhen ließ. Das Viertel, durch das sie sich bewegten, schien nicht halb so harmlos zu sein, wie es wirkte.

Aber sie erreichten unbehelligt den Platz, von dem er gesprochen hatte, und kurz darauf erneut den Schlund.

Tally begriff, daß sie einen Halbkreis geschlagen hatten.

Aber der Rand der Welt unterschied sich hier doch gewaltig von dem, an dem sie zusammengetroffen waren. Hier gab es eine Mauer, zwar nur brusthoch, aber beinahe ebenso dick, und zwischen ihr und den letzten Häusern lag ein gut zehn Schritte breiter unbebauter Streifen kopfsteingepflasterten Bodens. Sie fragte den Mann nach dem Grund des gewaltigen Umweges, den sie gemacht hatten.

»Die Gegend dort hinten ist nicht sicher«, antwortete er. »Es ist das Gebiet der Geier.«

»Geier?«

»Du bist nicht aus Schelfheim, wie?« Er lächelte verzeihend. »Eine Straßenbande. Die meisten sind noch Kinder, aber das macht sie nicht weniger gefährlich. Ich hatte meine Gründe, anzunehmen, daß du springen wolltest. Die Stelle dort ist so beliebt, daß die Selbstmörder manchmal Schlange stehen müssen«, fuhr er mit einem leisen Lachen fort. »Die Geier haben sich auf sie eingestellt, weißt du? Sie lauern ihnen auf und plündern sie aus, ehe sie springen können.«

»Und wer gar nicht springen wollte, dem helfen sie nach, wie?« vermutete Tally.

Der Blonde grinste. »Manchmal. Aber hier sind wir sicher. Und es ist nicht mehr sehr weit bis zu Karans Haus. Bist du schwindelfrei?«

Tally blickte ihn verwundert an, ehe sie bemerkte, daß seine Hand auf eine gut meterbreite Lücke in der Mauer wies, nur noch wenige Schritte vor ihnen. »Du willst... dort hinunter?« fragte sie ungläubig.

»Ich nicht. Aber du - wenn du wirklich zu Karan willst, heißt das.«

Tally antwortete nicht. Statt dessen trat sie mit einem raschen Schritt an die Mauer heran, beugte sich vor und blickte aus angestrengt zusammengepreßten Augen in die Tiefe. Die Dunkelheit war hier nicht weniger umfassend als weiter im Westen, aber sie erkannte trotzdem den schmalen, aus Holz und Tauen gebauten Steg, der unter ihr schräg in die Tiefe führte. An seinem Ende erhob sich ein massiges Etwas aus der Schwärze.

»Karan ist ein komischer Kauz«, erklärte ihr Begleiter. »Er lebt tatsächlich dort unten. Er behauptet, es wäre der einzige Ort auf der Welt, an dem er sich sicher fühlt. Also?«

Tally zögerte. Allein der Gedanke, auf den schwankenden Steg hinauszutreten, erfüllte sie mit Übelkeit. Aber sie hatte keine große Wahl, wenn sie Weller wiedersehen wollte. Sie nickte.

Der Weg nach unten war ein Alptraum. Der Steg war noch schmaler, als sie geglaubt hatte. Die hölzernen Stufen waren feucht geworden und so schlüpfrig wie Eis.

Ein straffgespanntes, allerdings kaum fingerdickes Tau erfüllte die Funktion eines Geländers, aber als Tally sich daran festhalten wollte, begann die gesamte Konstruktion zu zittern und schwanken, so daß sie die Hand hastig zurückzog und sich statt dessen gegen die Felswand preßte.

Sie hatte behauptet, schwindelfrei zu sein, und bisher hatte das auch gestimmt - aber bisher war sie auch niemals an einem fünf Meilen tiefen Abgrund entlangbalanciert. Die Schwärze unter ihr begann sich zu drehen.

Ihr wurde übel. Voller Neid blickte sie auf ihren Führer hinab, der sich mit geradezu unverschämter Sicherheit auf dem schwankenden Steg bewegte.

Aber schließlich hatten sie es geschafft. Vor Tally ragte plötzlich eine graue, schräg nach außen geneigte Wand auf, in der sich eine Tür öffnete. Ihr Begleiter trat rasch hindurch, drehte sich herum und zog Tally mit einer kraftvollen Bewegung zu sich. Tally atmete hörbar auf, als unter ihren Füßen wieder massiver Stein war. Die Vorstellung, daß sich unter diesem Stein nichts mehr befand, versuchte sie zu verdrängen.

»Willkommen in Karans Haus«, sagte der Blonde.

Tally sah ihn verwirrt an. »Bist du... Karan?« fragte sie.

»Ich?« Der junge Mann schüttelte heftig den Kopf. »Gott bewahre, nein! Mein Name ist Jan. Aber ich kenne ihn sehr gut. Willst du gleich zu ihm, oder willst du erst einen Moment ausruhen? Du siehst erschöpft aus.«

»Gleich«, sagte Tally, machte einen Schritt, fiel erschöpft auf die Knie herab und fügte hinzu: »Sobald ich mich erholt habe. Beim Schlund, wie kann ein Mensch hier leben?«

»Es ist sicherer als oben«, antwortete Jan lächelnd. »Und so, wie du aussiehst, solltest du das wissen. Du bist Tally, nicht wahr?«

»Woher weißt du das?« entfuhr es Tally.

»Weil ich dich gesucht habe«, antwortete Jan. »Als ich hörte, daß dieser Idiot Weller dich im Grünen Frosch zurückgelassen hat, habe ich mich auf den Weg gemacht. Nach dem, was ich dort gesehen habe, dachte ich schon, ich käme zu spät.« Er beugte sich vor, half ihr auf die Füße und blickte sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Sorge an. »Weißt du eigentlich, wen du da erledigt hast?« fragte er.

Tally schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Und es interessiert mich auch nicht. Bring mich zu Karan.«

Jan zögerte, zuckte aber dann nur die Achseln und wies mit einer einladenden Geste hinter sich, wo eine weitere, diesmal allerdings aus massivem Stein gebaute Treppe in die Tiefe führte. An ihrem Ende glomm warmes gelbes Licht, und als Tally der Einladung folgte und die Stufen hinabging, fühlte sie die prickelnde Berührung angenehm warmer Luft.

Weller und Karan saßen an einem Tisch und debattierten erregt, als Tally den Raum betrat. Karan - wenigstens vermutete sie, daß der verkrüppelte Alte Karan war - reagierte überhaupt nicht, aber Weller sprang auf, starrte sie einen Moment betroffen an und kam dann mit hastigen Schritten auf sie zu.

»Tally!« keuchte er. »Was tust du hier? Du solltest auf mich warten! Bist du lebensmüde?«

»Das wäre sie wohl, hätte sie getan, was du verlangt hast, du Idiot«, sagte Jan kalt. »Wenn ich sie nicht gefunden hätte, wäre sie jetzt wahrscheinlich tot.«

Weller setzte zu einer wütenden Entgegnung an. Aber dann wich der Zorn in seinem Blick jähem Erschrecken, als er Tallys bandagierten Arm sah, und den erbarmungswürdigen Zustand, in dem sie sich befand. »Was ist passiert?« fragte er.

»Nichts«, murmelte Tally. Plötzlich spürte sie die Wärme überdeutlich, beinahe schon unangenehm. Das Haus schien unter ihren Füßen zu wanken. Müdigkeit schlug wie eine lähmende Woge über ihr zusammen. Sie fühlte, daß ihr gleich übel werden würde. »Eine kleine... Meinungsverschiedenheit, mehr nicht.«

»Sie hat Angella und drei ihrer Männer erschlagen«, sagte Jan ruhig.

Zum erstenmal, seit sie das Zimmer betreten hatten, zeigte nun auch Karan eine Reaktion: in seinem Blick erschien ein Ausdruck von Unglauben, dann schierem Entsetzen, und auch Weller erbleichte noch weiter.

Aber Tally registrierte all dies nur noch am Rande.