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»Tally?« Tally wandte vorwurfsvoll den Blick. »Du hast ihm verraten, wer ich bin?«

»Das war nicht nötig«, verteidigte sich Weller. »Er wußte es bereits. Beim Schlund, die halbe Stadt weiß, daß du auf dem Wege hierher bist.«

»Aber keiner weiß, daß du Karan gesucht hast«, sagte Karan. »Auch Angella nicht. Du bist in Sicherheit, solange du das Haus nicht verläßt. Aber Weller hat recht - sie suchen dich. Dich und deinen Begleiter, den Waga. Was suchst du hier?«

»Dich«, antwortete Tally. »Ich habe von dir gehört, Karan. Ein Mann namens Sagor nannte mir deinen Namen.«

»Du suchst Karan, du hast Karan gefunden«, deklamierte Karan. »Also sage, was du von ihm willst.«

Tally zögerte. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, um nur hierher zu kommen, erschien es ihr beinahe zu einfach. »Ich... das heißt, wir«, begann sie,

»Hrhon und ich, brauchen deine Hilfe.«

»Wobei braucht ihr Karans Hilfe?« fragte Karan. »Braucht ihr Waffen? Rauschgift? Gedungene Mörder oder falsche Papiere? Sprich ruhig. Wenn der Preis stimmt, dann gibt es nichts, was Karan nicht besorgen kann.«

»Ich brauche nichts von alledem«, sagte Tally zögernd.

Nervös blickte sie erst Weller, dann Karan an, stand schließlich auf und trat ans Fenster. Aber sie blickte nicht in den Schlund hinab, sondern in den Himmel, der sich wie eine gigantische blaue Kuppel darüber spannte.

Trotzdem glaubte sie die Nähe des riesigen Abgrundes zu spüren. Ganz leicht wurde ihr schwindelig.

»Ich habe lange nach einem Mann wie dir gesucht, Karan«, begann sie vorsichtig. Sie war nervös. Sie wußte, wie wichtig die nächsten Worte waren. Aber sie hatte niemals gelernt, mit Worten umzugehen.

Mit einem Ruck drehte sie sich herum, ohne auf den stechenden Schmerz in ihrer Schulter zu achten, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen das glatte Glas des Fensters. »Wir brauchen einen Führer, Karan«, sagte sie. »Einen Mann, der Hrhon und mich dort hinunter bringt. Man sagte mir, du wärest der einzige, der das kann.«

Wellers Unterkiefer klappte herunter, aber Karans Gesicht blieb ausdruckslos. Nicht einmal in seinen Augen war so etwas wie Überraschung zu erkennen. Er mußte wohl geahnt haben, warum Tally wirklich hier war.

»Nein«, sagte er ruhig.

Tally seufzte. Sie hatte geahnt, daß die Schwierigkeiten jetzt erst wirklich begannen. »Du hast es schon einmal getan«, sagte sie.

»Karan ist nicht der einzige.«

»Aber du bist der einzige, der zurückgekommen ist«, beharrte Tally.

»Und wenn? Es bleibt bei Karans nein.«

»Du weißt ja noch gar nicht, was ich dir biete, Karan«, sagte Tally. »Und warum ich es will.«

»Warum du es willst, ist deine Sache«, sagte Karan. »Und was kannst du Karan bieten, was er nicht hätte? Er hat ein Haus, er hat Geld und er hat einen Sohn. Und er lebt. Wenn er mit dir dort hinunterginge, würde er sterben.«

»Du hast es schon einmal überlebt.«

»Karan hatte Glück«, sagte Karan ruhig. »Und etwas von ihm ist gestorben, dort unten. Auch von dir würde etwas sterben, gingen wir dorthin. Willst du das?«

»Ich -«

»Du«, unterbrach sie Karan, »bist nicht die erste, die mit dieser Bitte zu Karan kommt. Viele haben ihn gebeten, viele haben ihm Geld geboten, sehr sehr viel Geld, und manche haben ihn bedroht. Keinen hat er hinuntergeführt. Er kann dir den Weg beschreiben, aber das kostet Geld.«

»Verdammt noch mal das können andere auch«, sagte Tally heftig. »Ich habe tausend idiotische Ratschläge bekommen, Karan, angefangen von dem, einfach zu springen bis zu dem, mir Flügel wachsen zu lassen. Ich brauche jemanden, der schon einmal dort war. Jemanden, der sich dort unten auskennt. Der mich zu meinem Ziel führen kann! Verrückte, die versucht haben, den Schlund zu erkunden, gibt es genug. Aber du bist der einzige, der zurückgekommen ist! Es ist wichtig für mich, Karan! Wichtiger als mein Leben!«

»Nein«, beharrte Karan. Er stand auf. »Du kannst dir deinen Atem sparen, Tally. Niemand wird Karan bewegen, jemals wieder dort hinunterzugehen. Und wenn du ihn weiter bedrängst, dann wird er dich bitten müssen, sein Haus zu verlassen.« Damit wandte er sich um und verließ den Raum so schnell, daß Tally nicht einmal Gelegenheit fand, ihn zurückzurufen.

Wütend starrte sie ihm nach. Sie hatte geahnt, daß es schwer werden würde - aber jetzt hatte sie das Gefühl, daß es schlichtweg unmöglich war. Karan gehörte ganz eindeutig nicht zu den Menschen, die sich durch irgend etwas umstimmen ließen.

»Das ist dein Ernst, wie?« murmelte Weller verstört.

»Du... du willst wirklich dort hinunter? Deshalb hast du Karan gesucht?« Er stand auf, kam auf sie zu und blieb wieder stehen, als Tally ihn zornig anstarrte.

»Du... du bist völlig verrückt!« fuhr er fort. »Hättest du mir gesagt, was du von ihm willst, dann hätten wir uns das alles sparen können! Karan hat schon Hunderte abgewiesen, die mit der gleichen Bitte zu ihm kamen!«

»Aber ich muß dort hinunter«, beharrte Tally. Sie war wütend. Und sie war sich des Umstandes durchaus bewußt, daß sie sich wie ein störrisches Kind benahm, das seinen Willen nicht durchsetzen konnte.

»Und warum?« fragte Weller.

»Das geht dich nichts an.«

»Oh doch, das tut es!« behauptete Weller aufgebracht. »Immerhin hast du mich gezwungen, dich zu begleiten. Um ein Haar wäre ich umgebracht worden, und ob ich jemals lebend hier herauskomme, weiß ich noch immer nicht.« Er zog eine Grimasse. »Was immer du dort unten suchst, es ist nicht da«, sagte er mit einer Geste aus dem Fenster. »Glaube mir, Tally, dort unten ist nichts als der Tod.«

»Warst du dort?« fragte Tally spitz.

»Nein«, antwortete Weller wütend. »Niemand war da, außer Karan vielleicht, und auch nur vielleicht.«

»Du glaubst ihm nicht?«

Weller hob wütend die Schultern. »Was weiß ich. Er kann eine Menge behaupten, wenn niemand da ist, der das Gegenteil beweisen kann. Aber selbst wenn - er wird dich nicht hinunterbringen.«

»Ich könnte ihn zwingen«, sagte Tally.

»Du redest Unsinn«, schnaubte Weller. »Du kannst ihn zu einer ganzen Menge zwingen, aber nicht dazu.«

»Bist du sicher?« fragte Tally böse.

»Ganz sicher«, sagte Weller. »Und das weißt du ganz genau. Willst du wirklich in die Hölle gehen, mit einem Führer, dem du nicht trauen kannst?«

Tally starrte ihn an. Äußerlich wirkte sie ruhig, aber das war für jemanden, der sie kannte, allerhöchstens ein Alarmzeichen. Hinter der Maske aus Gelassenheit und Ruhe brodelte es. Beim Schlund - sie war nicht hierhergekommen, um sich mit einem Nein abspeisen zu lassen, einfach so, weil ein alter Mann zu stur war, sie überhaupt anzuhören.

»Sieh ein, daß es keinen Sinn hat, Tally«, fuhr Weller fort, der ihr Schweigen so falsch deutete, wie es nur ging.

»Ich kenne Karan. Wenn er einmal nein sagt, bleibt es dabei. Keine Macht der Welt kann ihn umstimmen. Und wenn du ihn verärgerst«, fügte er hinzu, »wird er uns rauswerfen. Du -«

Aber Tally hörte schon gar nicht mehr zu. Sie fuhr wütend herum, stapfte aus dem Raum und ging in das Zimmer zurück, in dem sie geschlafen hatte.

~ 4 ~

Es dauerte nicht lange, bis Karan zu ihr kam. Tally hatte halbwegs damit gerechnet, halbwegs hatte sie es aber auch befürchtet; denn sie ahnte, daß es kaum möglich war, den alten Sonderling umzustimmen. Trotzdem empfing sie ihn so freundlich, wie sie konnte - was angesichts ihrer momentanen Verfassung nicht sonderlich freundlich war.

»Du bist enttäuscht«, begann Karan das Gespräch, »weil Karan dir deinen Wunsch nicht erfüllt.«

Tally schwieg. Sie hatte das bestimmte Gefühl, daß der Alte nicht nur gekommen war, um ein paar Belanglosigkeiten mit ihr auszutauschen. Er war nicht der Typ, der um des Reden willens redete. Aufmerksam sah sie ihn an.