»Du weißt nicht, was du von Karan verlangst.«
»Doch«, widersprach Tally. »Ich weiß es. Aber es ist wichtig für mich.«
»Wichtig?« Karan lächelte auf eigentümliche Art. »Wichtiger als dein Leben?«
»Ja«, antwortete Tally, so impulsiv, daß Karan sie einen Moment fast erschrocken anstarrte, ehe er abermals lächelte, diesmal aber sehr dünn und fast traurig.
»Du bist ein Kind«, sagte er. »Eine Frau, und trotzdem ein Kind. Dein Leben hat noch nicht einmal richtig begonnen, und du willst es wegwerfen. Warum? Was treibt dich?« Er seufzte, drehte sich auf der Stelle herum und machte eine einladende Geste mit der Linken. »Komm mit, dummes Kind. Karan will dir etwas zeigen.«
Widerstrebend stand Tally auf und folgte dem Alten.
Sie gingen die Treppe hinunter und durchquerten das Kaminzimmer, in dem sie zuvor miteinander gesprochen hatten. Von Weller war keine Spur mehr zu sehen, und auch Jan, Karans Sohn, ließ sich nicht blicken. Überhaupt war das Haus sehr still, dachte Tally. Sie wußte nicht, warum, aber die Vorstellung, mit dem halbverrückten Alten allein in diesem Haus über dem Nichts zu sein, erfüllte sie mit Unbehagen.
Karan trat an das große Fenster, tat etwas, das Tally nicht genau erkannte, und plötzlich glitt ein Teil der mannshohen Glasscheibe mit einem kaum hörbaren Summen zur Seite. Dahinter kam ein kaum meterbreiter, von einer zierlichen schmiedeeisernen Brüstung begrenzter Balkon zum Vorschein. Karan trat mit einem raschen Schritt hinaus, lächelte ihr zu und wiederholte seine auffordernde Handbewegung.
Tally zögerte. Ihr Herz begann zu hämmern. Unter dem Balkon lag der Schlund. Das absolute Nichts. Ein Meilen tiefer Abgrund.
»Was hast du?« fragte Karan spöttisch. »Angst? Noch vor Stundenfrist hast du Karan gebeten, dich dort hinunterzubringen. Und jetzt hast du Angst davor, den Schlund auch nur zu betrachten.« Er schüttelte den Kopf. »Du bist ein Kind«, beharrte er.
Seine Worte ärgerten Tally so sehr, daß sie mit einem zornigen Schritt neben ihn trat und die Hände auf das Geländer legte - und genau das sollten sie ja wohl auch. Tally schwindelte, als sie so unversehens in den Abgrund hinabblickte; gleichzeitig wurde sie sich des Umstandes bewußt, daß sie sich wahrhaftig wie ein Kind benahm. Karan spielte mit ihr, und es bereitete ihm nicht einmal besondere Mühe.
»Du bist also Tally«, sagte Karan leise. »Die Frau, die von den Töchtern des Drachen und jedem Halsabschneider und Mörder im Lande gesucht wird. Auf deinen Kopf steht ein Vermögen, weißt du das?«
»Ich wäre kaum noch am Leben, wenn ich es nicht wüßte«, antwortete Tally scharf. »Was willst du? Mir erklären, daß ich in Gefahr bin?«
»Mit dir reden«, antwortete Karan ruhig. »Du bist nicht die erste, die mit diesem Wunsch zu Karan kommt. Die anderen habe ich fortgeschickt, ohne zu fragen. Du interessierst mich.«
»Welche Ehre«, murmelte Tally böse. »Vielleicht interessiere ich dich ja so sehr, daß du ihn mir erfüllst.«
Karan blieb ernst. »Du willst es wirklich«, sagte er leise. »Du willst dort hinunter.« Er deutete in das gigantisch saugende Nichts herab, ohne den Blick von Tally zu wenden. »Du hast all dies nur auf dich genommen, um zu sterben.«
»Nein«, antwortete Tally heftig. »Ich will dort hinunter, aber lebend. Und dazu brauche ich dich.«
»Es ist dasselbe«, erwiderte Karan ruhig. »Der Schlund ist der Tod.«
»Du bist der lebende Beweis, daß es nicht so ist«, sagte Tally erregt. Sie spürte, daß sie schon wieder dabei war, die Beherrschung zu verlieren, aber es war ihr gleich. Wenn es sein mußte, würde sie Karan zwingen, ihr zu helfen. »Ich muß dort hinunter, Karan, egal, wie, und -«
»Warum?« unterbrach sie Karan ruhig. »Was glaubst du, dort zu finden, Tally? Ruhm?« Er schüttelte den Kopf. »Sieh Karan an. Er war dort, aber er hat keinen Ruhm gefunden. Reichtum?« Wider schüttelte er den Kopf. »Dort unten gibt es nichts von Wert. Nichts, was du mitnehmen könntest. Abenteuer?« Zum dritten Male das Kopfschütteln. Tally hatte plötzlich den sicheren Eindruck, daß Karan genau diese Worte mit genau diesen Gesten schon tausendmal gesprochen hatte, und an genau dieser Stelle. Eine einstudierte Szene, die er allen Narren vorspielte, die hierherkamen. »Es gibt keine Abenteuer dort unten. Nur den Tod. Was also treibt dich?«
»Nichts, was dich etwas anginge«, erwiderte Tally zottlig.
Karan lachte. »Du verlangst von Karan, daß er dich dort hinunterführt, und meinst, es ginge ihn nichts an, warum?«
»Wirst du es tun, wenn ich es dir sage?« fragte Tally.
Karan verneinte. »Aber vielleicht hilft er dir anders«, fügte er hinzu. »Du wirst hinuntergehen, ob mit oder ohne Karans Hilfe. Und er weiß viel. Aber er gibt sein Wissen nicht jedem preis. Was also suchst du dort, wenn nicht den Tod?«
»Den Tod schon«, antwortete Tally leise. »Aber nicht meinen.« Fast erschrak sie selbst über ihre Worte. Sie hatte ihr Geheimnis bisher mit niemandem geteilt, und sie hatte bei ihrem Leben geschworen, es auch nicht zu tun. Aber sie hatte das sichere Gefühl, daß Karan eine Lüge erkennen würde.
»Rache also«, sagte Karan. Er schüttelte den Kopf, seufzte. »Wen haben sie getötet?« fragte er. »Deinen Liebsten? Deine Eltern? Deine Familie?«
»Alle«, antwortete Tally heftig.
»Und sie sind dort unten?«
»Ich denke, du kennst den Schlund?« fragte Tally mißtrauisch.
Karan lächelte. »O Kind«, sagte er, »wie kann ein Mann das da kennen?« Wieder deutete er in das Nichts hinab, drehte sich aber diesmal herum und stützte sich schwer mit den Unterarmen auf das eiserne Geländer.
»Karan war dort, aber was er gesehen hat, war nur ein kleiner Teil der Ewigkeit. Selbst wenn er dich hinabführte, könntest du dein Leben lang suchen, ohne zu finden. Was weißt du über den Schlund?«
Tally schwieg einen Moment. Sie wußte eine Menge über das große Nichts hinter der Welt - eine Menge Unsinn. Konkret gab es niemanden, der zu sagen wußte, was sich unter der blauweißgrün gemusterten Decke tief unter ihnen verbarg. Außer Karan vielleicht.
»Nichts«, sagte sie leise.
»Dann weißt du so viel wie alle«, lächelte Karan. »Karan wird dich nicht hinabführen, aber er wird dir vom Schlund erzählen - wenn du willst. Willst du?«
Seltsamerweise zögerte Tally. Sie brannte darauf, das große Geheimnis zu lüften, das zum Greifen nahe vor ihr lag - und gleichzeitig hatte sie Angst davor. Vielleicht war es die Angst, daß aus dem Traum jäh ein Alptraum werden konnte, daß sie erkennen mußte...
Ja, dachte sie, das war es. Sie hatte Angst, daß Karan sie überzeugte. Was, wenn er ihr bewies, daß es unmöglich war, dort hinunter zu gehen? Trotzdem nickte sie nach einer Weile.
»Dann sieh hinab«, sagte Karan. »Sieh hinab und spüre die Weite.«
Tally gehorchte, obgleich sie nicht so ganz begriff, was Karan überhaupt meinte. Die Vorstellung, sich von einem verrückten alten Mann zum Narren machen zu lassen, gefiel ihr nicht. Aber welche Wahl hatte sie schon?
Und nach einer Weile glaubte sie sogar zu spüren, was Karan meinen mochte. Sie spürte nichts von Weite und Erhabenheit und Ehrfurcht, nichts von alledem, was Karan von ihr erwarten mochte, aber zum erstenmal in ihrem Leben blickte sie wirklich in die Unendlichkeit hinab. Es gab keinen Horizont, ja, es war, als lösten sich nach einer Weile alle bekannten Begriffe auf. Es gab kein Hier oder Dort, kein Oben, Unten, Rechts oder Links - der Schlund war einfach da, und er war gewaltig.
Richtungen spielten keine Rolle, wenn es nichts gab, was sie begrenzte.
»Was weißt du über die Geschichte unserer Welt?« fragte Karan nach einer Weile.
»Nicht viel«, erwiderte Tally. Es fiel ihr schwer zu sprechen. Der Anblick der ungeheuerlichen Weite unter ihr lähmte sie. Sie sah eine ungeheuerliche, weißgetupfte Masse, tief, unglaublich tief unter sich, und noch tiefer darunter etwas Grünes und Blaues und Braunes. Was war das? dachte sie entsetzt.