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Er schüttelte abermals den Kopf, um seine Worte zu bekräftigen. »Karan nimmt dir den Versuch nicht übel, ihn zu überlisten«, sagte er ernst. »Er wäre überrascht, hättest du es nicht getan, denn er weiß, daß dir viel daran liegt, in den Schlund zu gehen. Doch du kannst nicht hier bleiben. Wenn es die Töchter des Drachen persönlich sind, die dich suchen, so werden sie hierher kommen, früher oder später, und in einem hast du recht - es wäre um Karan geschehen, fänden sie dich bei ihm. Bist du nicht da, ist er nicht in Gefahr.«

»Ich hoffe, du täuschst dich nicht«, sagte Tally, sehr scharf, aber ohne die mindeste Spur einer Drohung.

»Was soll geschehen?« fragte Karan ruhig. »Sie werden kommen und nach dir fragen, und Karan wird sagen, was war - daß eine verletzte Frau bei ihm war und um Hilfe bat. Er wird sagen, daß sie ihn bat, sie in den Schlund zu führen, und daß er ihre Bitte abschlug. Sie werden wieder gehen.«

»Und... wir?« fragte Weller.

»Karan kennt Wege aus der Stadt, die selbst den Töchtern des Drachen verborgen sind«, erwiderte Karan ernst. »Er wird euch einen davon zeigen. Ihr werdet in Sicherheit sein, lange bevor sie kommen.«

»Sie werden dich töten, Karan«, sagte Tally ernst. »Glaube mir. Du kannst sie nicht belügen. Sie... sie haben Hornköpfe, die das merken. Ich selbst bin einem solchen Wesen begegnet.«

Aber Karan schien ihre Worte nicht zu hören. Entschieden schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er. »Du wirst gehen und dein Freund auch. Es bleibt euch überlassen, ob ihr Karans Hilfe annehmen wollt. Aber gehen werdet ihr. Jetzt.«

Tally preßte wütend die Lippen aufeinander. Sie wußte, daß ihre letzte Chance dahin war, die letzte Möglichkeit, Karan zu überzeugen, schlimmstenfalls zu zwingen, wenn sie auch selbst nicht wußte, wie. Aber nicht einmal mehr dieser letzte Ausweg war ihr geblieben.

Tally tauschte einen fast verzweifelten Blick mit Weller.

Aber auch er war so ratlos wie sie. Zum erstenmal, seit sie zusammengetroffen waren, glaubte sie wirklich Angst in einem Blick zu erkennen.

Sie wollte noch etwas sagen, sich in einem letzten, verzweifelten Versuch an Karan wenden, von dem sie schon vorher wußte, daß es vergebens sein würde, aber in diesem Moment erscholl über ihren Köpfen ein splitterndes Krachen und Bersten, und Augenblicke später hörten sie schwere, polternde Schritte die Treppe hinunterkommen.

Karan rührte sich nicht, aber Jan und Weller fuhren wie ein Mann herum und griffen nach ihren Waffen, und auch Tally legte die Hand auf das Schwert, während sie sich zur Tür wandte.

Einen Augenblick später erschien ein vierhundert Pfund schweres Paket aus Muskeln und Panzerplatten am Ende der Treppe, walzte wie eine lebende Lawine auf Tally zu und begann hektisch mit den Armen zu wedeln, noch ehe sie vollends zum Stehen gekommen war.

»Hrhon!« rief Tally überrascht. »Was -«

»Ghefahr!« unterbrach sie der Waga. »Du mussst fliehehn! Sssie khommen!«

»Was tut dieses Ding in Karans Haus?« fragte Karan scharf. »Schick es fort, Tally! Karan befiehlt es!«

»Gut gespielt«, fügte Weller hinzu. »Kompliment, Waga.«

Tally seufzte nur.

Hrhon starrte sie der Reihe nach aus seinen kleinen, ausdruckslosen Schildkrötenaugen an. »Ssseid ihr ahllhe vohn Sssinnen?« lispelte er. »Ihr ssseid ihn Gehefhar! In whenigen Augenblicken isst die Ssstadtgarde hier: Isss konnte sssie nissst aufhhalten. Esss sind sssu vhiele!«

»Spar dir deinen Atem, Hrhon«, sagte Tally lächelnd. »Karan hat den Schwindel durchschaut. Er -« Sie verstummte mitten im Wort, starrte Hrhon einen Herzschlag lang verstört an und fuhr dann mit einem Ruck um. »Was soll das heißen, Jan?« fragte sie. »Ich denke, du hast ihm meine Nachricht nicht gebracht?!«

Jan antwortete nicht. Statt dessen blickte er verdutzt von dem Waga auf das zu einem Ball zusammengeknüllte Pergament, das er noch immer in der linken Faust hielt, und wieder zurück.

»Whiessso Ssswindedl?« zischelte Hrhon aufgeregt. »Versssteht ihr dhenn nhicht? Sssie kohmmen!«

»Beim Schlund, ich glaube, das Fischgesicht spricht die Wahrheit«, flüsterte Weller. Er war noch blasser geworden.

Und wie, um seine Worte zu unterstreichen, erscholl in diesem Moment zum zweiten Mal ein ungeheueres Krachen und Bersten vom oberen Ende der Treppe. Kalk und Staub und Steintrümmer polterten die Stufen herunter, gefolgt von einem schwarzen Alptraum aus schnappenden Kiefern und wie rasend wirbelnden Beinen.

Es war Hrhon, der der Tür am nächsten stand, und es war auch Hrhon, der als erster reagierte. Mit einer Schnelligkeit, die selbst Tally verblüffte, fuhr er herum, stürmte dem Hornkopf entgegen und hob die Arme.

Seine Faust fuhr mit vernichtender Kraft zwischen den zuschnappenden Mandibeln des Rieseninsekts hindurch, krachte auf seinen Schädel und zertrümmerte ihn.

Der Hornkopf schlitterte noch ein Stück weiter, getragen vom Schwung seiner eigenen Bewegung, und brach tot in der Tür zusammen. Sein riesiger, schwarzglänzender Panzerleib ragte halb ins Zimmer hinein und blockierte den Durchgang. Aber nicht weit genug, daß Tally und die anderen nicht die schwarzglänzenden Ungeheuer erkennen konnten, die hinter ihm herangelaufen kamen.

Weller fluchte ungehemmt, zog unsinnigerweise sein Schwert aus dem Gürtel und wich rückwärts gehend bis zur gegenüberliegenden Wand zurück. Auch Jan zog seine Waffe, während sein Vater weiter reglos stehenblieb. Nicht einmal auf seinem Gesicht zeigte sich irgendeine Reaktion auf den plötzlichen Überfall.

Aus dem Treppenschacht erscholl ein schriller, pfeifender Laut, und irgend etwas Schwarzes, Glänzendes, versuchte über den toten Hornkopf hinwegzukriechen und sich durch den schmalen Spalt zu zwängen, der zwischen seinem Rücken und der Decke blieb. Hrhon wartete, bis der Hornkopf wie ein Korken im Flaschenhals in der Lücke steckte. Dann erschlug er ihn.

Aber Tally und die anderen wußten sehr wohl, daß sie nur Sekunden gewonnen hatten. Der kurze Blick, den sie in den Schacht hineingeworfen hatten, hatte gezeigt, daß er von Chitin erfüllt war.

Ein harter Ruck ging durch den Leib des erschlagenen Hornkopfes. Die erschlafften Antennen des Rieseninsektes erzeugten raschelnde, unangenehme Geräusche auf dem steinernen Boden, als der Kadaver ein Stückweit nach hinten gezerrt wurde.

»Halt sie auf, Hrhon!«, befahl Tally hastig. Während Hrhon mit einem kampflustigen Zischeln nach dem Schädel des toten Hornkopfes griff und sich mit aller Macht dagegenstemmte, wandte sich Tally an Karan:

»Gibt es noch einen Ausgang aus diesem Haus?«

Karan nickte. »Einen geheimen Gang direkt in die Wand hinein. Aber sie werden ihn finden. Es sei denn...«

»Es sei denn was?« fragte Tally ungeduldig, als Karan nicht weitersprach.

Aber der Alte antwortete nicht, sondern drehte sich mit einem Ruck herum und wies auf einen Vorhang, dicht neben der Stelle, an der Weller versuchte, sich in den gewachsenen Felsen hineinzupressen. »Dort entlang. Und schnell«, befahl er.

Die beiden letzten Worte wären kaum mehr nötig gewesen - Weller hatte den Vorhang bereits zur Seite gerissen und stürmte hindurch, noch bevor Karan sie vollends zu Ende sprechen konnte. Und auch Karan selbst und sein Sohn folgten ihm mit großer Hast, während sich Tally noch einmal zu Hrhon herumdrehte.

Der Anblick war beinahe lächerlich - der Waga stemmte sich mit aller Kraft in den Boden und versuchte, den Kadaver des Hornkopfes festzuhalten, an dem unsichtbare Gewalten zerrten. Der Chitinpanzer des Rieseninsekts ächzte hörbar. Es konnte nur noch Augenblicke dauern, dachte Tally, bis das bizarre Tauziehen beendet war - einfach, weil der Hornkopf in Stücke gebrochen war.

»Hrhon!« befahl sie scharf. »Hierher!«

Der Waga gehorchte sofort. Der tote Hornkopf rutschte ein gutes Stück zurück und kam wieder zur Ruhe, zitternd und bebend, als wäre mit einem Male wieder Leben in ihm.