Ihr Führer zögerte wieder, dann deutete er mit einer Kopfbewegung auf eine der Türen, trat hindurch und steckte seine Fackel in einen eisernen Halter, der neben der Tür an der Wand angebracht war.
Tally sah sich neugierig um. Das Zimmer war klein und spartanisch eingerichtet: ein Tisch und eine Anzahl niedriger hölzerner Hocker bildeten zusammen mit einer gewaltigen Truhe die gesamte Möblierung. An der westlichen Seite gab es ein Fenster, aus dem vor hundert Jahren das Glas herausgefallen war. Dahinter lag der steinhart zusammengebackene, weiße Sand des Schelfs.
Der Raum war so niedrig wie der Gang draußen - sie verstand jetzt, warum der Riese sich so krumm hielt, denn die Decke war kaum hoch genug, daß sie selbst aufrecht stehen konnte. Ganz instinktiv fragte sie sich, was das für ein Leben sein mußte, wie ein Molch in einer Höhle hier unten zu vegetieren. Die Vorstellung ließ sie schaudern.
»Wartet hier«, sagte der Riese. »Ich hole Wein und Brot.«
Karan nickte, und ihr Führer entfernte sich so hastig, daß jedem klar sein mußte, wie froh er war, aus ihrer Nähe zu verschwinden.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Jan, kaum daß die Tür hinter ihm zugefallen war. »Nors ist dein treuester Verbündeter. Er würde sein Leben opfern, um deines zu retten.«
Karan, dem die Worte galten, nickte. »Er hat Angst«, sagte er. »Karan liest große Furcht in seiner Seele.« Sein Blick suchte den Tallys. »Du hast mächtige Feinde, Tally.«
»Ich fürchte, nicht nur ich«, sagte Tally. »Oh verdammt, Karan, das wollte ich nicht. Hätte ich geahnt, daß ich euch alle mit ins Verderben reiße...«
»Dann wärst du trotzdem gekommen«, unterbrach sie Karan. »Du überschätzt dich. Es liegt nicht in deiner Macht, irgend etwas zu tun oder zu ändern, was das Schicksal anders entschieden hat. Alles kommt, wie es kommen muß. Wir sind nur Werkzeuge. Kann das Beil sich weigern, den Baum zu spalten?«
»Manchmal«, sagte Tally ernst, »fährt es in das Bein dessen, der es schwingt.«
»Nur wenn er ungeschickt ist.« Karan machte eine abschließende Geste. »Wir würden auch nicht hier bleiben, wenn Nors es uns anböte«, fuhr er in verändertem Tonfall fort. »Eine Stunde Rast, vielleicht auch zwei, und ein wenig Nahrung, das ist alles, was Karan von ihm verlangt.« Er drehte sich herum, nahm auf einem der unbequemen Hocker Platz und sah demonstrativ zu Boden.
Nach einer Weile kam Nors zurück. Er war nicht mehr allein, sondern befand sich in Begleitung einer ältlichen, ebenfalls sehr hochgewachsenen Frau, die sich so krumm wie er hielt. Die beiden trugen Wein und Brot und sogar ein Tablett mit rohem Fleisch auf, das sie Hrhon vorsetzten. Dann zog sich die Frau zurück, während sich Nors mit vor der Brust verschränkten Armen gegen die Tür lehnte und ihnen stumm beim Essen zusah.
Tally brannten tausend Fragen auf der Zunge. Aber sie hatte das sehr sichere Gefühl, daß es besser war, Karan reden zu lassen. Nors hatte Angst. Panische Angst.
Karan tunkte sein letztes Stück Brot in eine Schale mit kalter, nach Tallys Meinung widerwärtig schmeckender Soße, kaute beides mit sichtlichem Genuß durch und fuhr sich mit der Hand über den Mund, ehe er sich wieder an Nors wandte.
»Nun erzähle, Freund«, begann er. »Was ist geschehen, daß du solche Angst hast, Karan die Freundschaft zu verweigern, auf die er Anspruch hat?«
Nors lächelte nervös. »Du... du hast nichts gehört?«
»Karan hatte anderes zu tun, als zu hören«, erwiderte Karan lächelnd. »Er wurde angegriffen und mußte fliehen. Sie haben die heiligen Gesetze der Gastfreundschaft gebrochen.«
»Sie werden noch etwas ganz anderes brechen, wenn sie dich in ihrer Begleitung finden.« Nors deutete anklagend auf Tally. »Zum Beispiel deinen Hals, Karan. Sie suchen euch überall.«
Tally spannte sich, aber Jan legte ihr rasch und beruhigend die Hand auf den Unterarm. Tally schwieg.
»Erzähle«, sagte Karan noch einmal.
»Sie durchsuchen die ganze Stadt«, sagte Nors. »Männer der Garde, und diese verdammten Hornköpfe.«
»Unmöglich!« behauptete Weller. »Das würden sie nicht wagen! Keiner von ihnen würde lebend hier herauskommen!«
»Und wenn ich dir sage, daß zwei dieser Speichellecker vor Stundenfrist bei mir waren, und nach Karan und euch gefragt haben?« sagte Nors. Wütend preßte er die Lippen aufeinander, sah Karan an und deutete mit einer Geste auf Tally und Hrhon. »Kann man ihnen trauen?«
»Sprich«, sagte Karan ruhig.
»Gut.« Nors blickte noch einmal nervös zu Tally.
»Ich... soll dir folgendes ausrichten: die Töchter des Drachen hegen keine Feindschaft gegen dich und deinen Sohn. Was in deinem Haus geschehen ist, soll vergessen sein. Sie sind sogar bereit, Wiedergutmachung zu leisten - wenn du sie auslieferst.« Er deutete wieder auf Tally. »Die Frau und den Waga. Weller interessiert sie nicht.«
»Lächerlich«, sagte Jan. Karan aber schwieg, wie Tally sehr wohl registrierte.
»Sie erzählen es jedem«, fuhr Nors fort. »Und sie sind überall. Ihr müßt vorsichtig sein, wenn ihr weitergeht. Die Stadt ist nicht mehr sicher. Wo du hinblickst, sind Soldaten und Hornköpfe. Im Westen wird gekämpft«, fügte er nach einer sekundenlangen Pause hinzu.
»Gekämpft?« Weller runzelte die Stirn.
»Ein paar der Straßenbanden haben die Garde angegriffen«, bestätigte Nors. »Die Garde hat große Verluste, aber sie rücken weiter vor. Es heißt, der Stadtkommandant hätte sich geweigert, seine Krieger hierher zu schicken, aber Jandhi habe ihn gezwungen.«
»Dann bleibt Karan nur noch ein Weg«, murmelte Karan.
Tally sah ihn aufmerksam an. »Und welcher?«
»Es geht nicht um ihn«, sagte Karan anstelle einer direkten Antwort. »Es geht um seine Freunde, um diese Stadt. Hier im Norden herrschte Frieden, seit langer Zeit.«
»Den Eindruck hatte ich nicht«, sagte Tally säuerlich und hob die Hand zu ihrer schmerzenden Schulter.
»Ein blutiger Frieden vielleicht, mit grausamen Regeln, aber trotzdem Frieden«, beharrte Karan. »Dein Auftauchen hat ihn beendet.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Du ziehst eine Spur von Blut hinter dir her, Tally. Karans Freunde werden sterben, vielleicht wird diese Stadt zerstört.«
»Du übertreibst.«
»Nein.« Weller schüttelte heftig den Kopf. »Hast du vergessen, was ich dir über den Norden der Stadt erzählt habe, Tally? Dies hier ist Schelfheim, aber nicht das Schelfheim der Mächtigen. Hier regieren andere. Der Stadthalter hat hier so wenig zu sagen wie du oder ich. Wenn er seine Krieger hierher schickt, ist das keine normale Patrouille, sondern Krieg. Die Banden werden es nicht hinnehmen. Möglicherweise schlagen sie zurück und legen das schöne piekfeine Schelfheim des Stadthalters ein wenig in Schutt und Asche.«
»Und alles meinetwegen, nicht wahr?« sagte Tally zornig. »Das soll es doch bedeuten, oder?«
»Das soll es«, sagte Karan an Wellers Stelle. »Aber es bedeutet nicht, daß Karan dich verrät. Du warst nur der Auslöser. Gebrochen haben andere die Regeln.«
»Und was wirst du tun?« fragte Tally leise.
»Was die Mächtigen wollen«, antwortete Karan. »Karan wird ihnen sagen, wo du zu finden bist. Aber du wirst nicht mehr da sein.«
Tallys Hand kroch zum Schwert, aber Karan lächelte nur, als er die Bewegung sah. »Nicht, was du denkst, dummes Kind«, sagte er milde. »Karan hat geschworen, es nicht zu tun, doch jetzt bleibt ihm keine Wahl. Er wird dir den Weg zeigen, den du gehen mußt.«
Es dauerte einen Moment, bis Tally begriff. Dann sprang sie vor lauter Erregung auf. »Der Schlund!« keuchte sie. »Du bringst uns hinunter?«
»Nein«, sagte Karan ruhig. »Aber Karan wird euch zeigen, wie ihr dorthin kommt. Ihr braucht keinen Führer. Sein Geheimnis ist nur, wie es zu tun ist, nicht, es zu tun.«