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»Sprich nicht in Rätseln, alter Mann«, sagte Tally drohend.

»Es sind keine Rätsel.« Karan lächelte. »Noch ehe die Nacht zu Ende ist, wirst du wissen, was Karan meint. Er wird euch nicht begleiten, aber er wird dir zeigen, was zu tun ist.« Er seufzte, brach noch ein kleines Stück Brot ab und führte es zum Mund, biß aber nicht hinein.

»Du wirst viel Mut brauchen, Mädchen«, sagte er.

»Den habe ich.«

Aber ganz sicher war sie plötzlich nicht mehr. Ganz und gar nicht.

~ 8 ~

Wieder waren sie unterwegs, nach Norden und damit in gerader Linie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Nach Tallys Zeitgefühl mußte es Mitternacht sein, aber sicher war sie da nicht: seit sie diese Stadt voller Wahnsinniger betreten hatte, lebte sie nicht mehr nach dem gewohnten Rhythmus. Ihre innere Uhr war ebenso durcheinandergeraten, wie ihre Gefühle es waren.

Der Himmel war nicht zu sehen. Es regnete zwar nicht mehr, aber die Wolken waren schwarz und dicht, wie Fäuste, die sich über den Dächern der Stadt ballten und den Mond und die Sterne verbargen. Tally wäre auch nicht erstaunt gewesen, wäre in diesem Moment die Dämmerung hereingebrochen. Trotzdem ihr Zeitgefühl war durcheinander, aber wenn sie noch auf ihre Schätzung vertrauen konnte, so mußte es Mitternacht sein.

Eine gute Zeit, zur Hölle zu fahren, dachte sie sarkastisch.

»Wohin gehen wir?« fragte sie.

»Zurück zum Hafen.« Jan antwortete, ohne sie anzusehen. Sein Gesicht war angespannt. Müdigkeit kennzeichnete seine Bewegungen. »Mein Vater besitzt einen Schuppen am mittleren Becken. Dort findet ihr alles, was ihr braucht.«

Tally registrierte sehr deutlich, daß er ihr gesagt hatte, nicht wir. Aber welche Rolle spielte es schon, ob sie allein ging oder in Karans Begleitung? Wahrscheinlich wären der verrückte Alte und sein kaum weniger beschränkter Sohn nur eine Last für Hrhon und sie, wenngleich auf der anderen Seite ihre Kenntnisse unten im Schlund von enormer Wichtigkeit sein mochten. Aber sie hatte ohnehin das Gefühl, daß sie längst keinen Einfluß mehr auf die Geschehnisse hatte.

»Der Weg in den Schlund führt über den Fluß?« fragte Weller stirnrunzelnd.

»Nur ein kurzes Stück«, erwiderte Jan. »Aber im Schuppen ist alles, war ihr braucht. Die Ausrüstung ist sehr umfangreich. Unser Haus wäre zu klein, sie aufzunehmen.«

Ausrüstung? Das war interessant. Jans Bemerkung bestätigt zwar ihren Verdacht nicht, aber sie war ein weiteres Stück des Puzzlespiels, das sie seit Tagen vergeblich zu lösen versuchte: nämlich die Frage, wie Karan diese Wahnsinnsklippe überwinden wollte. Daß Klettern unmöglich war, hatte er ihr ja praktisch schon bestätigt.

Aber wie dann?

Sie verschob die Lösung dieses Problems auf später, schloß mit wenigen raschen Schritten zu Hrhon auf, der die Spitze der kleinen Kolonne bildete, wobei er immer wieder stehenblieb und fragend zu Karan zurückblickte.

Hrhon blickte sie ausdruckslos an, aber für einen kurzen Moment glaubt Tally trotzdem, so etwas wie Freude in seinen Augen zu erkennen. Auch, wenn sie wußte, daß es unmöglich war, versuchte sie sich es zumindest einzureden.

Eine weitere halbe Stunde marschierten sie schweigend nach Norden zurück. Das dumpfe Grollen des Wasserfalls nahm allmählich an Macht zu. Die Luft schmeckte feucht. Einmal glaubte Tally Kampflärm zu hören, aber der Wind drehte sich und trug das Geräusch davon, ehe sie sicher sein konnte, und ein andermal sah sie deutlich Feuerschein über den Dächern im Westen aufflammen - ein kurzer, blendendheller Blitz, wie ihn nur ein Ding auf der Welt verursachen konnte, das sie kannte. Instinktiv glitt ihre Hand zum Gürtel und schmiegte sich um die so harmlos aussehende Waffe.

Karan hatte recht, dachte sie bitter: sie hatte mit ihrer Ankunft hier Dinge in Bewegung gesetzt, die sie längst nicht mehr aufhalten konnte.

Und sie war keineswegs unverwundbar, wie sie wenig später auf sehr drastische Weise erfahren sollte.

Sie hatten sich dem Hafen so weit genähert, daß das Tosen des Wasserfalls eine normale Unterhaltung bereits unmöglich machte und der Boden unter ihren Füßen zitterte. Die wenigen Menschen, die ihnen unterwegs begegnet waren, waren entweder so in Eile gewesen, daß sie keinerlei Notiz von ihnen genommen hatten, oder in heller Panik davongelaufen, als sie die vier bewaffneten Menschen und ihren gepanzerten Begleiter sahen, der zwar keinerlei Waffe trug, aber eine war. Doch ganz plötzlich hatte Tally das Gefühl - nein, nicht Gefühl. Die Gewißheit - beobachtet zu werden. Abrupt blieb sie stehen.

»Was ist los?« fragte Weller. »Warum gehst du nicht weiter?«

Tally zuckte zur Antwort mit den Achseln, zog das Schwert unter dem Mantel hervor und ließ den Blick ihrer angestrengt zusammengepreßten Augen über die Häuserreihe zur Rechten gleiten. Nichts. Nur Schatten.

Und doch...

»Ich weiß nicht«, murmelte sie. »Ich... ich glaube, jemand beobachtet uns.«

»Nissst jhemahnd«, zischte Hrhon. »Vhielhe. Sssehn. Vhielleissst fünfssehn.«

Tally blickte den Waga mit einer Mischung aus Schrecken und Ärger an. »Bist du sicher?«

»Nhein«, antwortete Hrhon ruhig. »Esss khöhnnen auch ssswansssig sssein.«

Weller erbleichte vor Schrecken, aber Tally schnitt ihm mit einer raschen Geste das Wort ab. »Wie lange schon?« fragte sie. Sie zweifelte keinen Augenblick an der Wahrheit von Hrhons Worten. Wenn ein Waga sagte, daß sie verfolgt wurden, dann wurden sie verfolgt.

»Eine Wheile«, antwortete Hrhon. »Ssssie khommen nissst nhäher.«

»Eine Weile«, murmelte Tally besorgt. »Und sie kommen nicht näher. Was bedeutet das?« Sie sah Karan an.

»Jandhis Leute? Oder Angella?«

»Was ist dir lieber?« fragte Karan. Tally verzichtete auf eine Antwort, tauschte aber vorsichtshalber das Schwert gegen die Drachenwaffe. Sie war sich darüber im klaren, daß selbst dieses entsetzliche Ding ihr nicht helfen würde, wenn es wirklich die Töchter des Drachen waren, die sie verfolgten. Aber ihr Gewicht beruhigte sie.

Seltsam, dachte sie. Noch vor wenigen Tagen erst hatte sie sich geschworen, die Waffe niemals gegen Menschen zu verwenden. Jetzt fieberte sie fast danach, den kurzen Lauf auf Jandhi zu richten und abzudrücken.

»Wenn es Jandhi ist, frage ich mich, wie sie so schnell unsere Spur aufnehmen konnte«, murmelte Weller. Er sah Karan an. »Kann es sein, daß dein Freund -«

»Karans Freunde sind keine Verräter«, unterbrach ihn Karan scharf. »Und selbst wenn«, fügte Jan hinzu, »könnte er nichts sagen. Niemand außer mir und Karan selbst weiß von dem Lagerhaus.« Er machte eine ärgerliche Handbewegung. »Wenn wir noch lange hier herumstehen und reden, finden wir sicher heraus, wer uns verfolgt. Beeilt euch - es ist nicht mehr weit.«

Tatsächlich lagen die fünf hintereinandergestaffelten Hafenbecken Schelfheims unter ihnen, als sie die nächste Gasse durchquert hatten. Das Donnern des Wasserfalls, der weniger als eine halbe Meile nördlich über die Kante der Welt hinausschoß, machte eine Unterhaltung unmöglich, wenn sie nicht schreien wollten, aber Jan deutete mit dem Arm nach links, auf das kleinste, unmittelbar hinter der Klippe gelegene Becken. Tally konnte in der Dunkelheit keine Einzelheiten ausmachen, aber sie glaubte sich zu erinnern, daß es ein gewaltiges Schleusentor in der Zyklopenmauer gab, die dem Wasser seine Wucht nahm. Jetzt erblickte sie auf der landeinwärts gewandten Seite des Beckens nichts als eine kompakte, finstere Masse. Wenn Karan sie mit einem Boot aus Schelfheim herausschaffen wollte, mußte jemand die Schleuse öffnen. Aber wie?

Sie bekam keine Gelegenheit, ihre Frage in Worte zu kleiden, denn Karan führte sie in raschem Tempo weiter - eine gewundene, vom Spritzwasser schlüpfrig gewordene Steintreppe hinab, über einen kurzen Steg und eine weitere Treppe, die direkt zum Becken herunter führte, dann ein Stückweit auf den Schlund zu, bis sie auf der Krone der Staumauer entlangliefen. Der Felsen unter ihren Füßen zitterte und bebte unter den Hammerschlägen des Wassers.