Der Wasserspiegel lag gut vier Meter unter ihnen; trotzdem spritzte die Gischt so hoch, daß Tally und die anderen schon nach wenigen Schritten bis auf die Haut durchnäßt waren. Sie vermied es krampfhaft, in die Tiefe zu blicken. Trotz der Dunkelheit war das Wasser weiß, so gewaltig war der Sog, der es gegen den Damm trieb. Ein Fehltritt, dachte sie schaudernd, und sie hatte keine Zeit mehr, zu ertrinken. Wer in diesen Strudel geriet, mußte auf der Stelle zermalmt werden.
Aber sie erreichten unbehelligt das gegenüberliegende Ufer des Beckens. Tally blieb stehen, um einen Moment Atem zu schöpfen, aber Karan trieb sie unbarmherzig weiter. Das Tosen des Wassers war hier so gewaltig, daß sie sich nicht einmal mehr schreiend verständigen konnten, aber sein hastiges Gestikulieren war eindeutig genug.
Eine Reihe flacher, aus Stein gebauter Lagerhäuser tauchte vor ihnen auf, eingehüllt in sprühende Gischt und ganz offensichtlich sehr alt. Manche von ihnen waren nicht mehr als Ruinen, andere standen leer. Die großen, weit offenstehenden Türen erinnerten Tally in der Dunkelheit an aufgerissene Mäuler.
Das Laufen fiel ihr jetzt immer schwerer. Die Luft war so mit Feuchtigkeit geschwängert, daß ihre Kleider wie Zentnerlasten an ihr zerrten und sie das Gefühl hatte, Wasser zu atmen. Mehr als einmal glitt sie auf dem schlüpfrigen Stein aus und kämpfte mit grotesk hüpfenden Schritten um ihr Gleichgewicht. Aber Karan gönnte ihnen nicht die geringste Pause, sondern lief im Gegenteil eher noch schneller. Tally begann sich zu fragen, woher dieser alte Mann die Kraft nahm, nicht einfach auf der Stelle zusammenzubrechen.
Schließlich wurde auch er langsamer - wenn auch nicht vor Erschöpfung, sondern weil sie ihr Ziel erreicht hatten.
Es war ein kleiner, halb über die Kante des Hafenbeckens hinausgebauter Schuppen, zum Wasser hin nicht aus Stein, sondern aus Holz erbaut und irgendwo in der Tiefe mit den schäumenden Fluten verschmelzend: eine raffinierte Mischung aus Schuppen und Bootshaus, wie Tally beim Näherkommen feststellte.
Karan eilte zu einer schmalen Seitentür, nestelte einen Moment lang am Schloß herum und stieß die Tür auf. Er selbst verschwand als erster im Haus, hantierte einen Moment lautstark im Dunkeln herum und tauchte schließlich wieder auf, eine Fackel in der Hand, die nicht richtig brannte und mehr Ruß und Gestank als Helligkeit verbreitete. Es schien in diesem Teil der Stadt nichts zu geben, was sich nicht mit Feuchtigkeit vollgesogen hatte.
»Kommt!« sagte er ungeduldig. »Tally und Weller! Der Waga soll Wache halten.«
Hrhon gehorchte wortlos. Während sich Weller und Tally an Karan vorbei in den Schupppen zwängten, ging er ein Stückweit den Weg zurück und verschmolz mit den Schatten eines Lagerhauses. Nur Jan rührte sich nicht, sondern sah seinen Vater fragend an.
Karan erwiderte seinen Blick. Sehr lange, sehr ernst und sehr nachdenklich.
»Eine halbe Stunde«, sagte er schließlich. »Nicht früher.«
»Kein Zeichen?« Jan klang besorgt.
»Kein Zeichen. Genau in einer halben Stunde.«
Jan nickte, drehte sich herum und verschwand im Laufschritt in der Dunkelheit, während Karan seine Fackel senkte und zu Tally und Weller in den Schuppen trat.
Beißender Qualm und der Gestank brennenden feuchten Holzes stieg ihnen in die Nasen. Wesentlich heller wurde es nicht.
»Was war das für eine Geheimsprache, Karan?« fragte Weller mißtrauisch. »Wo ist Jan hingegangen?«
»Jemand muß die Schleuse öffnen, oder?« fragte Karan ruhig. »Es sei denn, du willst das Boot über die Mauer heben.«
»Was für ein Boot?« fragte Tally rasch, ehe Weller vollends auffahren konnte. »Wohin fahren wir?«
»Wir nirgendwohin«, erwiderte Karan. »Du und dein Freund und -« Er deutete auf Weller. »- er, wenn er will. Karan wird euch sagen, was ihr zu tun habt. Es ist leicht.«
»So leicht, daß es außer dir noch keiner geschafft hat, wie?« fragte Weller mißtrauisch.
»Weil es niemand weiß«, sagte Karan. »Jetzt kommt. Die Zeit ist knapp bemessen. Wir haben viel zu tun.«
»Und was?« Weller rührte sich nicht von der Stelle.
»Ihr müßt das Boot beladen«, antwortete Karan. »Hinter euch sind Fackeln. Entzündet so viele, wie ihr könnt.«
Weller wollte abermals widersprechen, aber Tally versetzte ihm einen so derben Stoß mit dem Ellbogen, daß aus seinem geplanten Protest ein ersticktes Keuchen wurde. Karan lächelte flüchtig, gab ihr seine eigene Fackel und verschwand in der Dunkelheit.
Schweigend taten sie, was Karan ihnen befohlen hatte.
Tally entzündete ein gutes Dutzend Pechfackeln, die Weller in große, in Kopfhöhe an der Wand befestigten Halterungen steckte, und nach einer Weile wich die erstickende Schwärze einem schattenerfüllten Halbdunkel, in dem sie zwar noch immer nicht richtig sehen, ihre Umgebung aber halbwegs erraten konnten.
Der Schuppen bestand aus einem einzigen, gewaltigen Raum, und er war zu mehr als vier Fünfteln mit Wasser gefüllt. Tally und Weller standen auf einem kaum drei Schritte messenden gemauerten Streifen, unter dem das Wasser des Hafenbeckens sprudelte. Selbst hier drinnen schien es noch zu kochen. Das kleine, sonderbar schlank geformte Boote, das in der Mitte des Beckens lag, hüpfte wild auf und ab. Irgend etwas Großes, Helles bewegte sich unter Wasser.
Als sie alle Fackeln entzündet hatten, deutete Karan auf eine Anzahl großer, in Segeltuch eingeschlagene und sehr schwer aussehender Bündel, die am Ufer aufgestapelt waren. »Bringt sie an Bord«, sagte er.
Weller runzelte die Stirn und deutete auf das Boot.
»Und wie?« Das kleine Schiffchen - es war nicht sehr viel größer als ein Kanu und schien kaum lang genug, drei oder vier Passagieren Platz zu bieten - lag genau in der Mitte des kleinen Beckens: das Heck war gute fünf Meter vom Ufer entfernt. Und das Wasser brodelte selbst hier drinnen so, daß an ein Schwimmen nicht einmal zu denken war.
Statt einer Antwort hob Karan selbst eines der kleineren Bündel an, warf es sich über die Schulter - und trat mit einem entschlossenen Schritt ins Wasser hinab.
Er ging nicht unter.
Seine Beine versanken bis über die Waden hinab im Wasser, und Tally konnte sehen, welche Mühe es ihm bereitete, gegen den enormen Sog des Wassers anzukämpfen, aber er ging nicht unter. Irgend etwas war dicht unter der Wasseroberfläche. Wieder sah sie einen gewaltigen hellen Umriß durch den spritzenden Schaum blitzen. Wie ein Segel, dachte sie, das unter Wasser gespannt war. Oder ein Ausleger. Aber wenn, dann einer von gewaltigen Ausmaßen. Mitsamt den unter Wasser liegenden Teilen mußte das Boot das ganze Becken einnehmen.
Eine sehr ungute Ahnung stieg in ihr auf, wozu ein Boot mit solch gewaltigen Auslegern gut sein mochte, aber sie vertrieb sie, bevor sie zur Gewißheit werden konnte. Entschlossen bückte sie sich nach einem der Bündel, hob es ächzend auf die Schultern und sprang zu Karan ins Wasser hinab.
Es war ein Schock. Wie der Alte zuvor sank sie nur bis dicht über die Waden ein, aber unter ihren Füßen war kein fester Boden, sondern etwas zwar Hartes, aber Schwankendes, auf und ab Hüpfendes, das sie wie ein bockendes Pferd abzuwerfen versuchte, und das Wasser war eisig. Mit unsichtbaren Krallen riß und zerrte es an ihren Beinen. Es kostete sie all ihre Kraft, die kaum fünf Meter bis zu Karans Boot zurückzulegen. Sie fiel mehr hinein, als sie ging.
Trotzdem registrierte sie, daß der Rumpf des sonderbaren Schiffchens aus einem Holz erbaut war, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es schien unglaublich leicht zu sein und sehr dünn; eher eine Art straffgespannter, steifer Stoff als Holz. Sie fragte sich vergeblich, wie ein solches Spielzeug gegen die Strömung des Flusses ankämpfen sollte, ohne zu zerbrechen. Aber sie verschob auch diese Frage auf später, ging unsicher zum Ufer zurück und lud sich das nächste Bündel auf die Schulter.