Karan nickte abgehackt. »Ja. Geh ins Boot, damit Karan dir zeigen kann, wie es zu steuern ist.«
Tally schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein«, sagte sie. »Karan wird es nämlich selbst steuern, weiß du?«
Karan riß erschrocken die Augen auf. »Du -«
»Du täuschst dich«, unterbrach ihn Tally hart, »wenn du denkst, ich lasse dich hier zurück. Angella würde dich in Stücke schneiden. Ganz langsam.«
»Das stimmt«, sagte Angella haßerfüllt. »Aber nicht halb so langsam wie dich, du Miststück. In einer Stunde habe ich dich. Spätestens.« Sie spie aus. »Selbst, wenn du hier herauskommst, nutzt dir das nichts. Meine Männer haben das gesamte Becken umstellt.«
Tally schwieg einen Moment. Sie glaubte nicht, daß Angella die Wahrheit sagte - schließlich hatte sie nicht damit rechnen können, sich urplötzlich in Tallys Gefangenschaft zu finden, statt umgekehrt. Andererseits wäre Angella sicherlich nie zu dem geworden, was sie war, wenn sie so leicht zu übertölpeln wäre. Vielleicht war es besser, vorsichtig zu sein.
»Du hast recht, Angella«, sagte sie. »Es würde mir wohl nicht viel nutzen, hier herauszukommen. Allein. Deshalb wirst du uns begleiten.«
Angella erbleichte, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Das ist nicht dein Ernst«, keuchte sie.
»Und ob«, bestätigte Tally. »Aber ich verspreche dir, dich unversehrt wieder laufen zu lassen - wenn deine Männer vernünftig sind und nichts tun, was du bereuen müßtest, heißt das. Komm jetzt!«
Sie unterstrich ihre Worte mit einer befehlenden Geste, und diesmal gehorchte Angella. Ihr Gesicht war wie Stein, als sie behutsam ins Wasser herabstieg und dicht neben Tally auf den schwankenden Bootsrumpf zuging.
»Du bist wahnsinnig!« keuchte Karan. »Das Boot wird zerbrechen! Solche Lasten hält es nicht aus.«
»Es wird es müssen«, sagte Tally ungerührt. »Oder wir sind alle tot.« Rückwärts gehend wich sie vom Ufer zurück, bis sie die gewölbte Wandung des eigentlichen Bootes hinter sich spürte. Etwas platschte hörbar. Offensichtlich hatte Weller oder Hrhon einen weiteren Sack über Bord geworfen, um Platz für ihre Gefangene zu schaffen.
Tally sah rasch hinter sich. Angella war ins Boot geklettert und saß direkt zwischen Weller und Hrhon. Die gewaltigen Pranken des Waga lagen wie in einer vertrauten Geste auf ihren Schultern. Tally war jetzt sicher, daß Angella ihnen keine Schwierigkeiten bereiten würde. Sie mußte wissen, daß Hrhon ihr Genick wie einen dünnen Ast brechen konnte; selbst in seinem momentanen Zustand.
Sie wartete, bis auch Karan - wenn auch mit sichtlichem Widerwillen - an Bord geklettert war, dann zwängte sie sich selbst auf den letzten, verbliebenen Platz, der normalerweise kaum mehr für ein Kind ausgereicht hätte.
»Los jetzt«, befahl sie.
Karan zögerte noch immer. »Du bringst uns alle um«, behauptete er. »Es wird zerbrechen!«
»Wenn wir hierbleiben, sterben wir garantiert«, antwortete Tally ernst. »Und wahrscheinlich auf wesentlich unangenehmere Art.« Gegen ihre Überzeugung lächelte sie plötzlich. »Mach schon. Wir werden es schaffen. Ich spüre es.«
Karan schnaubte, drehte sich aber mit einem Ruck um und griff nach einem von drei unterschiedlich großen Hebeln, die vor ihm aus der Bootswand ragten.
Ein harter Schlag ging durch das Schiffchen. Dicht unter der Wasseroberfläche zerriß ein Tau mit solcher Plötzlichkeit, daß sein zerfetztes Ende wie eine Schlange aus dem Wasser hervorbrach und nach den Männern auf der Mauer hieb.
Das Boot schoß wie ein Pfeil aus dem Schuppen.
Und dann brach schier die Hölle los.
Drinnen in Karans Bootshaus war das Wasser fast still gewesen; seine Mauern hatten die größte Wucht der Strömung gebrochen. Hier draußen aber war das winzige Boot den tobenden Gewalten schutzlos ausgeliefert.
Eine Reihe harter, unglaublich harter Schläge traf seinen Rumpf und schüttelte seine Insassen durch. Gischt spritzte meterhoch und überschüttete Tally mit eisiger Kälte. Hastig ließ sie die Waffen sinken und klammerte sich am dünnen Holz des Rumpfes fest. Trotzdem hatte sie das Gefühl, jeden Moment im hohen Bogen ins Wasser katapultiert werden zu müssen. Das Schiff bockte und stampfte wie ein durchgehendes Pferd. Ein tiefes, beinahe schmerzhaft klingendes Ächzen drang aus dem unter Wasser liegenden Teil des Schiffes. Karan begann zu schreien.
Tally war fast blind. Himmel und Wasser verschwanden hinter einer Mauer aus sprühender weißer Gischt; trotzdem erkannte sie noch, daß sie sich mit geradezu phantastischer Geschwindigkeit vom Schuppen entfernten - und geradewegs auf die Staumauer zuschossen!
»Wo sind die Ruder!« brüllte sie. »Karan, zum Teufel - wie lenkt man dieses Ding!«
»Überhaupt nicht«, schrie Karan zurück. »Halt dich fest und bete, daß Jan die Schleuse öffnet, ehe wir an der Wand zerschellen!«
Tally betete nicht, aber sie versuchte verzweifelt, durch den Schleier aus sprühender weißer Gischt hindurchzusehen. Für einen Moment glaubte sie, winzige hastende Gestalten am Ufer zu erkennen, die sich flußaufwärts bewegten, auf die Wehrmauer zu, die sie durchqueren mußten. Angellas Männer. Selbst, wenn es Jan gelang, die Schleuse zu öffnen - sie würden sich hindurchkämpfen müssen.
Wenn sie dann noch lebten - denn das Boot schaukelte und bockte jetzt immer mehr. Tally konnte die dünnen Spanten unter ihrem Körper ächzen hören.
Noch drei, vier dieser entsetzlichen Erschütterungen, dachte sie, und das Schiff würde wirklich zerbrechen. Das Knirschen des überlasteten Rumpfes hörte sich an wie Schmerzensschreie.
Aber sie sah auch, daß sie sich jetzt nicht mehr in gerader Linie auf die dem Schlund zugewandte Seite des Beckens zubewegten, sondern eine sehr langgezogene Spirale begonnen hatten.
Und sie begriff beinahe zu spät, was diese jähe Kursänderung bedeutete...
Das Boot jagte mit der Geschwindigkeit eines Pfeiles in den Strudel hinein, tauchte für eine endlose, schreckliche Sekunde vollends unter und brach schäumend wieder aus dem Wasser hervor.
Für einen ganz kurzen Moment hatte Tally den Eindruck, zwei gigantische weiße Dinge zu sehen, die zu beiden Seiten des Rumpfes aus dem Schiff ragten, absurde Konstruktionen wie hölzerne Segel, riesig und spitz zulaufend, aber unsinnigerweise so angebracht, daß sie normalerweise unter der Wasseroberfläche liegen mußten.
Aber sie hatte Augen und Mund voller Wasser und war viel zu sehr damit beschäftigt, nach Atem zu ringen, um richtig hinsehen zu können, und im nächsten Moment klatschte das Schiff mit einem so ungeheuerlichen Schlag ins Wasser zurück, daß sie mit dem Kopf gegen die Bordwand prallte und sekundenlang benommen hocken blieb.
»Die Schleuse!« schrie Karan. »Sie geht auf! Jan hat es geschafft. Sie geht auf!«
Tally stemmte sich mühsam hoch und blickte nach Süden. Die Mauer des Hafenbeckens lag weiter wie ein fett gemalter Tuschestrich vor ihr. Schatten bewegten sie darauf, Metall blitzte, aber sie konnte nicht die mindeste Lücke in der nachtschwarzen Barriere erblicken, die zwischen ihnen und der Freiheit lag.
Dann begann sich das Boot zu bewegen. Und es waren keine willkürlichen wilden Stöße mehr, sondern ein fast sanftes Drehen, als es von einer neuen, sehr machtvollen Strömung gepackt wurde...
... und den spitzen Bug nach Norden richtete.
Direkt auf den Schlund.
Tally schrie in heller Panik auf, als sie begriff.
Wo Sekunden zuvor noch das gewaltige eiserne Schleusentor gewesen war, gähnte eine Lücke, aus der Entfernung betrachtet nicht breiter als ihre Hand, und mit hoch aufschießendem, gischtenden Wasser gefüllt.
Aber sie wurde breiter, im gleichen Maße, in dem die Geschwindigkeit ihres Schiffes zunahm.
Und dahinter lag der Wasserfall, eine Glocke aus sprühendem Nebel und Donner, die Kante der Welt, über die der Fluß hinausschoß, um sich in der Leere zu verlieren.