»Ich würde an deiner Stelle das Gleiche tun. Ich hole meinen Verwalter, falls der Arzt schon mit ihm fertig ist.« Ohne ein weiteres Wort wandte sich Gaius ab.
Es wäre höflich gewesen, den Männern Erfrischungen anzubieten, aber Gaius war verärgert, weil er Tubruk holen musste, um seine Glaubwürdigkeit zu bestätigen. Er ließ sie warten.
Tubruk war wenigstens sauber und hatte gute, dunkle Kleidungsstücke angezogen. Alle seine Wunden und Verbände waren unter der wollenen Tunika und den Bracae, den ledernen Hosen, verborgen. Als er die Legionäre sah, musste er lächeln. Die Welt kam wieder in Ordnung.
»Seid ihr die Einzigen in diesem Gebiet?«, fragte er.
»Äh, nein, aber ...«:, setzte Titus an.
»Gut.« Tubruk wandte sich an Gaius. »Herr, ich schlage vor, du lässt diese Männer einen Boten mit der Nachricht wegschicken, dass sie hier etwas länger aufgehalten werden. Wir brauchen Männer, um das Gut wieder in Ordnung zu bringen.«
Gaius machte ein ebenso ernstes Gesicht wie Tubruk und ignorierte Titus’ Miene.
»Da hast du Recht, Tubruk. Sulla hat sie schließlich ausgesandt, damit sie den entfernt liegenden Gütern helfen. Und hier gibt es jede Menge zu tun.«
Titus versuchte es erneut. »Also, hört mal .«
Tubruk nahm wieder Notiz von ihm. »Ich schlage vor, du überbringst die Nachricht persönlich. Die anderen sehen aus, als würde ihnen ein bisschen harte Arbeit nichts ausmachen. Sulla würde doch ganz sicher nicht wollen, dass du uns hier alleine in den Trümmern zurücklässt.«
Die beiden Männer blickten sich an. Titus seufzte und griff an seinen Helm, um ihn abzunehmen. »Keiner soll sagen können, ich würde mich vor der Arbeit drücken«, murmelte er. Er drehte sich zu einem seiner Legionäre um und deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf die Felder hinaus. »Reite zurück und schließ dich den anderen Einheiten an. Sag Bescheid, dass ich hier ein paar Stunden lang aufgehalten werde. Wenn ihr Sklaven findet ... sag ihnen, jeder Dritte, in Ordnung?«
Der Mann nickte freudig und verschwand.
Titus machte sich daran, seinen Brustpanzer abzulegen. »In Ordnung. Wo sollen meine Leute anfangen?«
»Kümmere du dich darum, Tubruk. Ich sehe nach den anderen.« Gaius drehte sich um und drückte dem Verwalter mit einem kurzen Griff an die Schulter seine Anerkennung aus. Am liebsten hätte er jetzt einen langen, einsamen Spaziergang durch die Wälder gemacht oder sich an das Becken am Fluss gesetzt, um seine Gedanken zu ordnen. Doch das musste warten, bis er jeden Mann und jede Frau, die in der vergangenen Nacht für seine Familie gekämpft hatten, aufgesucht und mit ihnen gesprochen hatte. Sein Vater hätte das Gleiche getan.
Als er an den Stallungen vorbeikam, hörte er aus der Dunkelheit heftiges Schluchzen. Er hielt inne; er wusste nicht, ob er hineingehen sollte. Es lag so viel Trauer in der Luft, genau wie in seinem Innern. Diejenigen, die gefallen waren, hatten Freunde und Verwandte gehabt, die nicht damit gerechnet hatten, diesen Tag alleine beginnen zu müssen. Einen Augenblick blieb er noch stehen, und der ölige Gestank der Leichen, die er angezündet hatte, stieg ihm in die Nase. Dann betrat er den dunklen Schatten zwischen den Boxen. Wer immer es auch war, sein Kummer lag jetzt in seiner Verantwortung, er musste diese Bürde mit ihm teilen. Sein Vater hatte das verstanden, und deshalb war das Gut auch so lange gut gediehen.
Seine Augen gewöhnten sich nach dem grellen Morgenlicht nur langsam an die Dunkelheit. Er schaute in alle Boxen, um den Ursprung der Geräusche zu finden. Nur in zweien standen Pferde, die leise wieherten, als er ihnen über die weichen Mäuler streichelte. Sein Fuß schabte gegen einen Stein und das Schluchzen verstummte augenblicklich, als hielte jemand den Atem an.
Gaius verharrte so regungslos, wie es ihm Renius beigebracht hatte, bis er hörte, wie die Luft mit einem Seufzer entwich und er wusste, wo sich die andere Person befand.
Im schmutzigen Stroh saß Alexandria, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand gelehnt. Sie blickte auf, als sie ihn bemerkte, und er sah, dass Tränen durch den Schmutz in ihrem Gesicht gelaufen waren. Sie war ungefähr so alt wie er, vielleicht ein Jahr älter, erinnerte er sich. Die Erinnerung daran, wie Renius sie ausgepeitscht hatte, stieg wieder in ihm auf, verbunden mit einem stechenden Gefühl der Schuld.
Er seufzte. Er hatte keine Worte für sie. Langsam legte er die wenigen Schritte zurück und setzte sich neben sie an die Wand, wobei er darauf achtete, genug Abstand zwischen ihnen zu lassen, als er sich anlehnte, damit sie sich nicht bedroht fühlte. Es war still. Die Gerüche und die ganz eigene Stimmung hatten die Stallungen immer schon zu einem beruhigenden Ort für Gaius gemacht. Als er noch klein gewesen war, hatte er sich oft hierher geflüchtet, um sich vor Ärger oder einer drohenden Strafe zu verstecken. Eine Weile saß er in Gedanken versunken da, und obwohl sie kein einziges Wort wechselten, war den beiden die Situation nicht unangenehm. Die einzigen Geräusche waren die Bewegungen der Pferde und hin und wieder ein Schluchzen, das Alexandria immer noch entwich.
»Dein Vater war ein guter Mensch«, flüsterte sie endlich.
Er fragte sich, wie oft er diesen Satz noch hören würde, ehe der Tag um war, und ob er es aushalten würde. Er nickte stumm.
»Es tut mir so schrecklich Leid«, sagte er zu ihr und spürte eher, als dass er es sah, wie sie den Kopf hob und ihn ansah. Er wusste, dass sie getötet hatte, hatte sie blutverschmiert im Hof stehen gesehen, als er gestern Nacht herausgekommen war. Er glaubte zu verstehen, warum sie weinte, und er hatte sie eigentlich trösten wollen, doch die Worte lösten eine Welle des Schmerzes in ihm, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ er den Kopf auf die Brust sinken.
Alexandria sah ihn mit großen Augen überrascht an. Ehe sie darüber nachdenken konnte, hatte sie die Arme um ihn gelegt, und sie hielten einander in der Dunkelheit fest, ein kleiner Ort innigen Kummers, während die Welt draußen im Licht der Sonne ihren Gang ging. Sie strich ihm mit einer Hand über das Haar und flüsterte ihm tröstende Worte zu, während er sich immer wieder entschuldigte, bei ihr, bei seinem Vater, bei den Toten, bei denen, die er verbrannt hatte. Als er sich ausgeweint hatte, ließ sie ihn langsam los, im allerletzten Augenblick jedoch, ehe er zu weit entfernt war, presste sie ihre Lippen auf seine und spürte, wie er leicht zusammenzuckte. Sie zog sich zurück, umschlang ihre Knie mit den Armen, und ihr Gesicht brannte, unsichtbar im Dunkeln. Sie spürte seinen Blick, aber sie konnte ihn nicht erwidern.
»Warum hast du ...?«, murmelte er mit vom Weinen heiserer und verquollener Stimme.
»Ich weiß es nicht. Ich habe mich nur gefragt, wie es sein würde.«
»Und wie war es?«, erwiderte er, und seine Stimme wurde vor Belustigung wieder kräftiger. »Schrecklich. Jemand muss dir mal beibringen, wie man küsst.«
Er sah sie nachdenklich an. Vor wenigen Augenblicken war er noch in seinem Kummer ertrunken, der in ihm nicht weniger oder schwächer werden wollte. Jetzt bemerkte er, dass unter dem Schmutz und den Strohhalmen und dem Geruch von Blut - unter ihrer eigenen Trauer - ein einzigartiges Mädchen steckte.
»Ich habe den ganzen restlichen Tag Zeit, um es zu lernen«, sagte er leise. Die Worte stolperten umständlich an den nervösen Hindernissen in seiner Kehle vorbei.
Sie schüttelte den Kopf. »Auf mich wartet Arbeit. Ich sollte schon wieder in der Küche sein.«
Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob sie sich aus der Hocke und verließ die Box, als wolle sie einfach so ohne ein weiteres Wort gehen. Dann blieb sie stehen und sah ihn an.
»Danke, dass du gekommen bist, um mich zu suchen«, sagte sie und trat hinaus ins Sonnenlicht. Gaius sah ihr nach. Er fragte sich, ob ihr wohl klar war, dass er noch nie ein Mädchen geküsst hatte. Noch immer konnte er den leichten Druck auf seinen Lippen spüren, als hätte sie ihn gebrandmarkt. Sie hatte es doch wohl nicht wirklich schrecklich gefunden? Ihm fiel auf, wie steif sie sich jetzt wieder hielt, als sie den Stall verließ. Sie war wie ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel, aber mit der Zeit, in anderer Umgebung und in der Gesellschaft von Freunden, würde sie wieder gesund werden. Genau wie er, wurde ihm klar.