Marcus schlenderte hinüber zu dem Messer, zog es mit einem Ruck heraus, schob es wieder in die Scheide an seiner Hüfte und spähte angestrengt in die Finsternis.
»Komm raus, Peppis, ich weiß, dass du da drin bist«, rief er. Er hörte ein Schniefen. »Ich hab dich nicht treffen wollen. Es war nur ein Scherz. Ehrlich.«
Langsam kam ein spindeldürrer kleiner Junge hinter einem Bündel Sackleinen hervor. Er war unglaublich schmutzig, seine Augen waren vor Angst weit aufgerissen.
»Ich hab dich nur beobachtet«, sagte Peppis nervös.
Marcus betrachtete ihn genauer und bemerkte eine kleine Kruste aus getrocknetem Blut unter seiner Nase und einen blauen Fleck über einem Auge.
»Haben die Männer dich wieder verprügelt?«, fragte er und versuchte, seine Stimme freundlich klingen zu lassen.
»Ein bisschen, aber es war meine eigene Schuld. Ich bin über ein Tau gestolpert und dadurch habe ich einen Knoten gelöst. Ich habe es nicht mit Absicht getan, aber der Erste Maat hat gesagt, er wird mich lehren, ungeschickt zu sein. Ich bin aber schon ungeschickt, deshalb habe ich gesagt, das muss mich niemand lehren, und dann hat er mich verprügelt.« Er schniefte wieder und wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. Eine silbrige Spur blieb darauf zurück. »Warum läufst du nicht im nächstbesten Hafen davon?«, fragte Marcus.
Peppis streckte seine Brust so weit heraus, wie es ging, wodurch sich seine Rippen wie weiße Stangen unter der Haut abzeichneten.
»Ich doch nicht. Ich will Matrose werden, wenn ich größer bin. Ich lerne die ganze Zeit, indem ich den Männern zusehe. Ich hätte das Tau heute wieder verknoten können, wenn mich der Erste Maat gelassen hätte, aber das konnte er ja nicht wissen.«
»Soll ich mich mal mit diesem ... mit dem Ersten Maat unterhalten? Und ihm sagen, dass er mit dem Prügeln aufhören soll?«
Peppis wurde sogar noch blasser und schüttelte den Kopf. »Er würde mich umbringen, wenn du das machst, vielleicht auf dieser Reise oder vielleicht auch auf der Rückfahrt. Er sagt immer, wenn ich es nicht schaffe, Matrose zu werden, schmeißt er mich eines Nachts über Bord, wenn ich schlafe. Deshalb schlafe ich nicht in meiner Koje, sondern hier oben an Deck. Ich wechsle oft meinen Schlafplatz, damit er nicht weiß, wo er mich findet, wenn er meint, es ist so weit.«
Marcus seufzte. Der Kleine tat ihm Leid, doch es gab keine einfache Lösung für seine Probleme. Selbst wenn er den Ersten Maat still und leise über Bord warf, würden die anderen Peppis weiter quälen. Sie beteiligten sich alle daran, und als Marcus Renius zum ersten Mal davon erzählt hatte, hatte der alte Gladiator gelacht und gesagt, so einen gäbe es auf jedem Schiff. Trotzdem ärgerte sich Marcus darüber, wenn dem Jungen wehgetan wurde. Er hatte nie vergessen, wie es war, der Gnade von Schlägertypen wie Suetonius ausgeliefert zu sein, und er wusste, dass er, wenn er und nicht Gaius die Wolfsfalle gebaut hätte, ihn mit Steinen beworfen und getötet hätte. Er seufzte erneut und stand auf, um seine müden Muskeln zu strecken.
Wo wäre er wohl gelandet, wenn Gaius’ Eltern sich nicht um ihn gekümmert und ihn großgezogen hätten? Er hätte sich auch sehr gut an Bord eines Handelsschiffs verstecken und in die gleiche schreckliche Situation wie Peppis geraten können. Er hätte nie gelernt, wie man kämpft oder sich verteidigt, und die Unterernährung hätte auch ihn schwach und kränklich werden lassen.
»Hör mal«, sagte er, »wenn ich dir schon nicht bei den Matrosen helfen darf, dann lass mich wenigstens mein Essen mit dir teilen. Ich esse sowieso nicht viel und habe immer einen Teil davon zurückgehen lassen, vor allem bei unruhiger See. In Ordnung? Bleib hier, dann bringe ich dir etwas.«
Peppis nickte stumm und Marcus ging ein wenig fröhlicher unter Deck in seine enge Kabine, um Käse und Brot zu holen, die man ihm zuvor dort hingestellt hatte. In Wahrheit hatte er selber Hunger, doch er konnte auch ohne Essen auskommen; der kleine Junge hingegen war fast verhungert.
Marcus ließ Peppis mit dem Essen allein und ging nach achtern zu den Steuerrudern, weil er wusste, dass der Erste Maat um Mitternacht das Ruder übernahm. Wie Peppis hatte er den richtigen Namen des Mannes nie erfahren. Alle nannten ihn nur nach seinem Rang, und er schien seine Arbeit gut zu machen, die Mannschaft mit harter Hand zu führen. Das kleine Schiff Lucidae hatte obendrein den Ruf, ehrlich zu sein, weil auf ihren Reisen nur sehr wenig Fracht verloren ging. Andere Schiffe mussten immer wieder derartige kleine Verluste abschreiben, um ihre Mannschaften bei Laune zu halten. Nicht jedoch die Eigner der Lucidae.
Marcus’ Züge hellten sich auf, als er den Mann erblickte, der seinen Posten bereits übernommen hatte und eines der großen Ruder sicher gegen die Strömungen behauptete und sich leise mit seinem Kameraden an dem anderen Ruder unterhielt.
»Ein schöner Abend«, sagte er, als er näher kam.
Der Erste Maat knurrte und nickte. Zu zahlenden Passagieren hatte er freundlich zu sein, über die notwendigste Höflichkeit jedoch ging er nicht hinaus. Er war ein kräftig gebauter Mann, der das Ruder mit einem Arm hielt, während sein Partner sein ganzes Gewicht und beide Schultern einsetzen musste, um das seine ruhig zu halten. Der andere Mann sagte nichts, aber Marcus erkannte in ihm ein anderes Mannschaftsmitglied, groß gewachsen, mit langen Armen und rasiertem Schädel. Er starrte unverwandt nach vorne und konzentrierte sich ganz auf seine Aufgabe und das Gefühl des Holzes in seinen Händen.
»Ich möchte gerne ein Mitglied der Mannschaft als Sklaven kaufen. Mit wem muss ich da reden?«, fragte Marcus mit unvermindert freundlicher Stimme.
Der Erste Maat blinzelte überrascht, und zwei Blicke hefteten sich auf den jungen Römer.
»Wir sind freie Männer«, sagte der andere, und aus seiner Stimme war sein Missfallen herauszuhören.
Marcus sah verwirrt aus. »Ich meinte natürlich keinen von euch. Ich meinte den Jungen, Peppis. Er steht nicht auf der Mannschaftsliste. Ich habe nachgesehen, deshalb dachte ich, dass er vielleicht zu verkaufen ist. Ich brauche einen Jungen, der mir das Schwert trägt und .«
»Ich habe dich an Deck beobachtet«, grollte der Erste Maat aus tiefer Brust. »Du hast immer finster dreingeblickt, wenn wir ihm eine Lektion erteilt haben. Du bist wohl eins von diesen verweichlichten Stadtbürschlein, die meinen, wir würden den Schiffsjungen zu streng behandeln. Entweder das, oder du hättest ihn gerne für dein Bett. Was nun?«
Marcus lächelte und zeigte dabei die Zähne.
»Oh weh. Das klang aber wie eine Beleidigung, mein Freund. Du solltest besser das Ruder loslassen, damit ich dir auch mal eine Lektion erteilen kann.«
Der Erste Maat machte den Mund auf, um zu antworten, und Marcus schlug zu. Eine Weile schlingerte die Lucidae steuerlos über das dunkle Meer.
Renius rüttelte ihn unsanft wach.
»Steh auf! Der Kapitän will dich sprechen.«
Marcus stöhnte. Sein Gesicht und Oberkörper waren mit Blutergüssen bedeckt. Renius pfiff leise, als er aufstand und sich vorsichtig anzuziehen begann. Mit der Zunge fand er einen lockeren Zahn und er zog den Wasserkrug unter dem Bett hervor, um blutigen Schleim hineinzuspucken. Mit dem Teil seines Bewusstseins, der schon funktionierte, bemerkte er zu seiner Freude, dass Renius seinen eisernen Brustpanzer trug und sein Schwert umgeschnallt hatte. Der Stumpf seines Armes war mit sauberen Stoffstreifen verbunden und die Schwermut, die ihn in den ersten Wochen an seine Kabine gefesselt hatte, schien verschwunden zu sein. Als Marcus seine Tunika übergestreift und einen Umhang gegen die Morgenkühle umgelegt hatte, hielt ihm Renius die Tür auf.