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Marcus drehte sich zu Renius um. Der Gladiator schüttelte ungläubig den Kopf.

»Oh Ihr Götter, bist du noch nicht trocken hinter den Ohren. Dieser Dolch ist viel zu gut, um ihn wegzuwerfen«, sagte er.

»Ich werde ihn nicht verlieren. Wenn ich mich der Mannschaft gegenüber beweisen muss, dann werde ich es eben tun. Ich bin stark genug. Wie schwierig können diese Aufgaben denn schon sein?«

19

Marcus klammerte sich verzweifelt an den Querbalken des Mastes. Hier, am höchsten Punkt des Schiffs, kam es ihm so vor, als schwinge er mit dem Mast von einem Horizont zum anderen. Das Meer unter ihm war grau und mit schäumenden, weißen Wellen übersät, die keine Gefahr für das robuste kleine Schiff darstellten. Sein Magen drehte sich, und jeder Teil von ihm antwortete mit Unbehagen. Bis zum Mittag waren alle seine Blutergüsse steif geworden, und jetzt fiel es ihm schwer, den Kopf nach rechts zu drehen, ohne dass der Schmerz schwarze und weiße Punkte vor seinen Augen flimmern ließ.

Über ihm stand, barfuß und ohne sich irgendwo festzuhalten, ein Matrose auf der Rah, der als Erster den Dolch gewinnen wollte. Der Mann grinste ihn an, nicht boshaft, aber die Herausforderung war eindeutig: Marcus sollte neben ihn treten und das Risiko eingehen, ins Meer oder, noch schlimmer, auf das Deck tief unter ihm zu stürzen.

»Von unten sahen die Masten gar nicht so hoch aus«, knurrte Marcus durch zusammengebissene Zähne.

Der Matrose kam lässig zu ihm herüber. Er war absolut im Gleichgewicht und passte seinen Schwerpunkt pausenlos dem Rollen und Stampfen des Schiffs an.

»Hoch genug, um dich zu töten. Aber der Erste Maat konnte auch die Rah entlanglaufen. Es ist deine Entscheidung.«

Er wartete geduldig und überprüfte zwischendurch aus alter Gewohnheit, ob die Knoten und Taue straff saßen. Marcus biss die Zähne zusammen, hob sich über die Querstange und drückte seinen rebellierenden Magen dagegen. Unten sah er die anderen Männer und erkannte einige Gesichter, die nach oben schauten und sehen wollten, ob es ihm gelang. Oder vielleicht auch nur, um rechtzeitig beiseite zu springen, falls er fiel.

Die Spitze des Mastes, die voller Taue hing, befand sich in Griffweite, und er benutzte sie, um sich weit genug hochziehen und einen Fuß auf das Rundholz stellen zu können. Das andere Bein hing herunter, und einen Augenblick lang nutzte er seine Pendelbewegung, um sein Gleichgewicht zu finden. Nach einem weiteren schmerzhaften Aufbäumen seiner gepeinigten Muskeln hockte er auf der Rahe und hielt sich mit beiden Händen am Mast fest, während seine Knie fast höher waren als sein Kinn. Er sah zu, wie sich der Horizont bewegte, und hatte plötzlich das Gefühl, als stünde das Schiff still und die ganze Welt wirbele um ihn herum. Jetzt war ihm schwindlig, und er schloss die Augen, was jedoch nur wenig half.

»Komm schon«, sprach er sich Mut zu. »Einen guten Gleichgewichtssinn hast du doch.«

Seine Hände zitterten, als er den Mast losließ und das Geschaukel mit den Beinmuskeln ausglich. Dann erhob er sich langsam wie ein alter Mann, bereit, jederzeit sofort den Mast zu ergreifen, sobald er das Gleichgewicht verlor. Aus einer gebeugten Haltung richtete er sich auf, bis er mit hängenden Schultern aufrecht stand, die Augen unverwandt auf den Mast gerichtet. Dann beugte er die Knie ein wenig und versuchte, sich der Bewegung durch die Luft anzupassen.

»Du hast Glück. Heute ist es nicht sehr windig«, sagte der Matrose gleichmütig. »Ich war mal bei einem Sturm hier oben und habe versucht, ein zerrissenes Segel festzubinden. Das hier ist gar nichts.«

Marcus hielt sich mit einer Antwort zurück. Einen Mann, der sechzig Fuß über dem Deck so entspannt mit verschränkten Armen dastehen konnte, wollte er nicht verärgern. Er starrte ihn an, und zum ersten Mal, seit er diese Höhe erreicht hatte, hatten sich seine Augen vom Mast gelöst. Der Matrose nickte. »Du musst einmal quer rüberlaufen. Von deinem Ende bis zu meinem. Dann darfst du wieder runter. Wenn du die Nerven verlierst, gib mir den Dolch, ehe du hinunterkletterst. Man kommt sonst nicht so gut ran, wenn du auf die Planken knallst.«

Das wiederum konnte Marcus gut verstehen. Der Mann versuchte ihn nervös zu machen und erreichte damit das genaue Gegenteil. Er wusste, dass er sich auf seine Reflexe verlassen konnte. Wenn er fiel, würde ihm genügend Zeit bleiben, sich an irgendetwas festzuhalten. Also würde er die Höhe und die Bewegungen einfach nicht weiter beachten und es riskieren. Er richtete sich ganz auf, machte kleine Schritte zurück zum Rand und beugte sich vor, als der Mast fest entschlossen schien, ihn bis zur Meeresoberfläche hinunterzutauchen, ehe er sich nach einem Augenblick wieder aufrichtete und erneut nach vorne kippte. Dann kam es ihm vor, als blicke er einen Berghang hinunter, den nur der lässig dastehende Matrose verdeckte.

»Na gut«, sagte er und streckte die Arme aus, um die Balance zu halten. »In Ordnung.«

Mit kleinen Schritten bewegte er sich voran, wobei er die Sohlen seiner nackten Füße nie vom Holz löste. Er wusste, dass der Matrose hier mit Leichtigkeit entlanggehen konnte, doch er hatte nicht vor, jahrelange Erfahrung mit ein paar atemberaubenden Schritten wettzumachen. Stattdessen schob er sich ganz langsam vorwärts, und sein Selbstvertrauen wuchs gewaltig an, bis er das Schaukeln fast genoss, sich im Gleichklang mit der Bewegung hin- und herbeugte und über sie lachte.

Der Matrose sah ihn ungerührt an, als er ihn erreichte.

»Reicht das?«, fragte Marcus.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Bis zum Ende, habe ich gesagt. Du hast noch gut drei Fuß vor dir.«

Marcus sah ihn verärgert an. »Du stehst mir im Weg, Mann!« Er sollte doch wohl kaum auf einem Stück Holz, das kaum breiter war als sein Oberschenkel, um den anderen herumgehen? »Dann sehen wir uns unten«, sagte der Mann und trat von dem Querbalken herunter.

Marcus stockte der Atem, als die Gestalt an ihm vorbeischoss. In dem Augenblick, als er die Hand, die sich an dem Balken festhielt, und das Gesicht, das zu ihm emporgrinste, erblickte, verlor er das Gleichgewicht und fing an, in Panik hin- und herzuschwanken. Er wusste, dass er gleich auf das Deck aufschlagen würde. Noch mehr Gesichter trieben in sein Gesichtsfeld. Sie schienen alle nach oben zu blicken, blasse Schemen mit ausgestreckten Fingern.

Marcus ruderte wie wild mit den Armen und beugte sich in heftigen Zuckungen vor und zurück, um nicht in die Tiefe zu stürzen. Er fand sein Gleichgewicht wieder, konzentrierte sich auf die Rah, ignorierte die Tiefe unter sich und versuchte, den Rhythmus seiner Muskeln wieder zu finden, der ihm noch vor wenigen Augenblicken solchen Spaß bereitet hatte.

»Fast wärst du gefallen«, sagte der Matrose, der immer noch lässig an einem Arm von der Rah hing und die Höhe gar nicht wahrzunehmen schien. Es war ein raffinierter Trick gewesen, und beinahe hätte er funktioniert. Lachend und kopfschüttelnd wollte der Mann gerade nach einem Tau greifen, als Marcus auf die Finger trat, die sich an dem Querbalken festhielten.

»He!«, schrie er, aber Marcus beachtete ihn nicht und legte sein gesamtes Gewicht auf die Ferse, während er die Bewegungen der Lucidae ausglich. Plötzlich machte ihm das Ganze wieder Spaß, und er tat einen tiefen, reinigenden Atemzug. Die Finger wanden sich unter ihm und in der Stimme des Matrosen hörte man einen Anflug von Panik, als er merkte, dass er das nächste Tau nicht ganz erreichen konnte, selbst wenn er es mit den Beinen versuchte. Wäre seine Hand frei gewesen, hätte er mit Leichtigkeit schwingen und loslassen können, derart festgehalten jedoch konnte er nur baumeln und fluchen.

Ohne Warnung nahm Marcus den Fuß weg, um den letzten Schritt zum Ende der Rah zu machen und vernahm mit Freude die kratzenden Geräusche unter sich, als der Matrose vollkommen überrascht abrutschte und sich verzweifelt festzuhalten versuchte. Marcus schaute nach unten und sah den wütenden Blick des Mannes, der sich anschickte, wieder auf den Querbalken zurückzuklettern. Die Mordlust stand ihm ins Gesicht geschrieben. Marcus eilte schnell zur Mitte der Rah zurück, wo er sich hinsetzte und den Mast fest mit den Oberschenkeln umklammerte. Da er sich immer noch unsicher fühlte, legte er sein linkes Bein weiter unten um den Mast, um sich abzustützen. Er zog Marius’ Dolch hervor und begann seine Initialen ganz oben in das Holz zu schnitzen.