»Er ist nicht mein Onkel«, rief ihm Marcus in Erinnerung. »Wie viel haben die Pferde gekostet?« »Frag nicht. Und rechne nicht damit, dass es unterwegs viel zu essen gibt. Los jetzt, wir holen die Pferde morgen bei Sonnenaufgang ab. Hoffentlich sind die Zimmerpreise nicht im gleichen Maße gestiegen, sonst müssen wir uns hierher zurückschleichen, sobald es dunkel geworden ist.«
Weiter vor sich hinknurrend, verließ Renius den Stall, gefolgt von Marcus und Peppis, die sich alle Mühe gaben, nicht zu grinsen.
21
Marcus saß bequem auf seinem Pferd und beugte sich hin und wieder nach vorne, um Lanzers Ohren zu kratzen, als sie den Bergpfad hinunterritten. Peppis saß hinter ihm und döste, vom sanften Rhythmus des Pferdeschritts eingelullt. Marcus überlegte, ob er ihn mit einem Ellbogenstoß wecken sollte, damit er die herrliche Aussicht bewundern konnte, ließ ihn aber doch lieber in Ruhe.
Es kam ihm vor, als könnten sie aus der Höhe ganz Griechenland überblicken, das sich in einer wogenden, grünen und gelben Landschaft mit Olivenhainen und dazwischen in Tälern und auf Bergen verstreuten Gehöften vor ihnen ausdehnte. Die saubere Luft roch hier ganz anders, Düfte unbekannter Blumen lagen darin.
Marcus musste an den sanftmütigen Vepax denken, seinen ehemaligen Lehrer, und fragte sich, ob er einst durch diese Hügel gewandert war. Vielleicht hatte Alexander selbst seine Armeen auf dem Weg in die Schlacht im fernen Persien durch diese Ebenen geführt. Er stellte sich die grimmigen kretischen Bogenschützen und die mazedonische Phalanx vor, wie sie dem jungen König folgten, und richtete sich im Sattel auf.
Renius ritt voraus. Sein Blick wanderte in monotoner Gleichmäßigkeit aufmerksam von dem schmalen Pfad zu dem struppigen Unterholz links und rechts und wieder zurück. In der Woche, die sie nun schon unterwegs waren, hatte er sich immer mehr in sich zurückgezogen, und manchmal vergingen ganze Tage, in denen sie kaum mehr als ein paar Worte wechselten. Nur Peppis brach das lange Schweigen, wenn er mit lauten Ausrufen der Verwunderung über Vögel oder Eidechsen auf den Steinen staunte. Marcus hatte keine Unterhaltung erzwungen, da er spürte, dass der Gladiator das Schweigen vorzog. Immer wieder betrachtete er lächelnd den Rücken des Mannes vor ihm und dachte darüber nach, wie er eigentlich zu ihm stand.
Damals, in jenem Augenblick auf dem Hof des Gutes, als Gaius verwundet im Staub lag, hatte er ihn gehasst. Trotzdem hatte er einen widerstrebenden Respekt verspürt, sogar als er das Schwert gegen seinen Ausbilder erhoben hatte. Renius hatte eine Präsenz, gegen die andere Männer vergleichsweise unscheinbar wirkten. Er konnte brutal sein und war zu gefühlloser Gewalt fähig, konnte Schmerzen oder Angst einfach ignorieren. Andere folgten ihm, ohne groß darüber nachzudenken, als wüssten sie irgendwie, dass dieser Mann sie durchbringen würde. Marcus hatte es auf dem Gut und auf dem Schiff erfahren, und es fiel ihm schwer, nicht selbst einen Anflug von Ehrfurcht zu empfinden. Nicht einmal sein fortgeschrittenes Alter machte etwas aus. Marcus dachte daran, wie Cabera die Wunden des alten Mannes geschlossen hatte, und an sein Erstaunen über die rasche Heilung. Sie hatten beide verwundert zugesehen, wie das Leben in dem zerhauenen Körper wieder aufflackerte und die Haut sich mit dem plötzlich wieder zirkulierenden Blut rötete.
»Er beschreitet einen größeren Weg als die meisten anderen«, hatte Cabera gesagt, nachdem Renius im kühlen Haus auf ein Bett gelegt worden war, wo er vollends genesen sollte. »Seine Füße stehen fest auf dem Boden.«
Marcus hatte sich über Caberas Ton gewundert, als dieser versuchte, dem jungen Mann die Wichtigkeit dessen, was er gesehen hatte, verständlich zu machen.
»Noch nie zuvor habe ich gesehen, dass der Tod seinen Griff so rasch von einem Mann löst wie bei Renius. Als ich ihn berührt habe, flüsterten die Götter in meiner Seele.«
Der Pfad wand sich kreuz und quer zwischen den Steinen hindurch, und sie verlangsamten das Tempo, damit die Pferde sich den Weg suchen konnten, da sie weder eine Zerrung noch einen Sturz riskieren wollten.
Ich frage mich, was die Zukunft wohl für dich bereit hält?, dachte Marcus in der behaglichen Stille. Vater.
Das Wort war plötzlich da, und er erkannte, dass die Vorstellung schon seit einer Weile in ihm gewesen war. Er hatte nie einen Mann gekannt, den er hätte Vater nennen können, und als er tiefer und ohne Schmerzen in seine Gefühle eindrang, schloss das Wort eine Tür in seinem Inneren auf. Renius war nicht von seinem Blut, doch ein Teil von ihm wünschte sich, er würde dieses Land mit seinem Vater durchreisen und sie würden sich dabei gegenseitig vor Gefahren schützen. Es war ein herrlicher Wunschtraum, und er malte sich aus, wie die Leute staunten, wenn sie hörten, dass er der Sohn des Renius war. Vielleicht würden sie dann auch ihn mit ein wenig Ehrfurcht betrachten, und er würde einfach nur lächeln.
Renius ließ geräuschvoll einen Wind abgehen und verlagerte sein Gewicht nach links, ohne sich umzusehen. Marcus, derartig derb aus seinen Gedanken gerissen, musste herzhaft lachen und kicherte noch eine ganze Weile vor sich hin. Der Gladiator ritt weiter, die Gedanken auf den Abstieg gerichtet, und auf das, was ihm selbst bevorstand, wenn er Marcus erst bei der Legion abgeliefert hatte.
Sie näherten sich einer schmalen Stelle, an der der Pfad zwischen auf beiden Seiten hoch aufragenden Felsen hindurchführte, die aussahen, als wäre der Weg durch sie hindurchgeschnitten worden. Renius legte die Hand auf den Schwertgriff und lockerte die Klinge. »Wir werden beobachtet. Halt dich bereit«, rief er gedämpft nach hinten.
Kaum hatte er das gesagt, erhob sich nicht weit vor ihm eine dunkle Gestalt aus dem Unterholz. »Halt.«
Das Wort war lässig und in klarem, verständlichem Latein ausgesprochen worden, doch Renius ignorierte es einfach. Marcus zog sein Schwert halb und ließ sein Pferd mit sanftem Schenkeldruck weitergehen. Die plötzliche Steifheit in den Armen um seine Taille verriet ihm, dass Peppis wach war, aber zumindest diesmal still blieb.
Mit dem gelockten Bart sah der Mann aus wie ein Grieche, doch im Gegensatz zu den Händlern, die sie in der Stadt getroffen hatten, wirkte er eher wie ein Krieger. Er lächelte und erhob noch einmal die Stimme.
»Halt, oder ihr werdet getötet. Letzte Chance.«
»Renius?«, murmelte Marcus nervös.
Der alte Mann knurrte, ritt jedoch unbeirrt weiter und grub die Fersen in Apollos Flanken, um ihn in Trab fallen zu lassen.
Ein Pfeil zerschnitt die Luft und bohrte sich mit einem dumpfen Geräusch in die Schulter des Pferdes. Apollo schrie auf und stürzte, warf Renius in einem Durcheinander aus schepperndem Metall und lauten Flüchen zu Boden. Peppis stieß einen Angstschrei aus, Marcus zügelte sein Pferd und suchte gleichzeitig das Unterholz nach dem Bogenschützen ab. War es nur einer, oder gab es mehrere? Diese Männer waren offensichtlich Straßenräuber; wenn sie sich rasch ergaben, kamen sie mit etwas Glück vielleicht mit dem Leben davon.
Renius kam umständlich wieder auf die Beine und riss sein Schwert heraus. Seine Augen glitzerten. Er nickte Marcus zu, der geschmeidig abstieg und sich so hinter sein Pferd stellte, dass es zwischen ihm und dem verborgenen Bogenschützen stand. Er zog ebenfalls seinen Gladius und fühlte sich durch das vertraute Gewicht in der Hand sofort sicherer. Peppis kletterte ebenfalls vom Pferd und versuchte sich hinter einem Bein zu verstecken, wobei er nervös vor sich hin murmelte.
Der Fremde sprach abermals mit freundlicher Stimme. »Macht keine Dummheiten. Meine Gefährten wissen sehr gut mit ihren Bögen umzugehen. Hier in den Bergen kann man nicht viel anderes tun als zu üben. Und hin und wieder einen Reisenden um seinen Besitz erleichtern.«