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Der Seemann bückte sich, untersuchte den Gegenstand und zuckte die Achseln.

»Keine Ahnung. Ich wüßte an Bord eines Schiffes keine Verwendung dafür, auch nicht, um irgend etwas festzubinden. Der Strang ist zu nachgiebig, er würde sich dehnen, sobald er unter Spannung stünde.«

Fidelma, die noch immer kniete, hatte noch etwas anderes entdeckt: Bröckchen von rotbraunem Lehm, die auf den Planken des Laderaums verstreut lagen.

»Was ist das, Schwester?« fragte Ross und hielt die Lampe hoch über sie.

Fidelma nahm ein paar Lehmbröckchen in die Hand und untersuchte sie eingehend.

»Nichts. Nur roter Lehm. Vermutlich wurde er beim Verstauen der Ladung vom Strand hereingetragen. Es gibt hier eine ganze Menge davon.«

Sie erhob sich und ging durch den kahlen Lagerbereich hinüber zu einer Luke auf der anderen Seite, Richtung Bug. Plötzlich hielt sie inne und drehte sich zu Ross um.

»Gibt es eine Möglichkeit, sich unter diesem Deck zu verstecken?« fragte sie und deutete auf den Decksboden.

Im Dämmerlicht verzog Ross das Gesicht.

»Nur für Wasserratten. Hier drunter liegt nur noch der Kielraum.«

»Trotzdem, ich halte es für das beste, das ganze Schiff zu durchsuchen.«

»Ich werde das sofort veranlassen«, stimmte Ross zu. Er akzeptierte ihre natürliche Autorität ohne Murren.

»Gebt mir die Lampe, dann mache ich hier weiter.« Fidelma nahm die Laterne und trat durch die Luke in den vorderen Teil des Schiffes, während Ross, der wie alle Seeleute ausgesprochen abergläubisch war, ängstlich um sich blickte und schließlich nach einem seiner Besatzungsmitglieder rief.

Das Licht von Fidelmas Lampe fiel auf eine schmale Stiege; sie führte über ein Kabelgatt, in dem der Anker des großen Schiffes verstaut war. Am Ende der Treppe lagen zwei weitere Kajüten, auch sie leer und peinlich sauber wie die anderen. Erst jetzt fiel Fidelma auf, was hier eigentlich fehlte. Alles war aufgeräumt - zu aufgeräumt, ohne die geringste Spur von persönlichen Dingen, die dem Kapitän, der Mannschaft oder etwaigen Mitreisenden gehört haben mochten, es gab weder Kleidung noch Rasierzeug, nichts außer einem blitzblanken Schiff.

Sie drehte sich um und ging einen kurzen Niedergang hinauf an Deck, um Ross zu suchen. Dabei glitt ihre Handfläche über das polierte Geländer, und sie spürte, wie sich dessen Beschaffenheit veränderte. Bevor sie sich näher damit befassen konnte, hörte sie jemanden an Deck nach ihr rufen. Sie trat ans Tageslicht.

Ross stand mit finsterer Miene neben der Tür zum Niedergang und kam sogleich auf sie zu.

»Im Kielraum ist niemand, Schwester, außer Ratten und Unrat, wie zu erwarten war. Auf jeden Fall keine Menschen«, berichtete er grimmig. »Weder lebend noch tot.«

Fidelma starrte auf ihre Handfläche. Sie war verfärbt, wie mit einem blaßbraunen Gewebe überzogen. Sie wußte sofort, worum es sich handelte, und streckte sie Ross entgegen.

»Getrocknetes Blut. Vor nicht allzu langer Zeit vergossen. Das ist die zweite Blutspur auf diesem Schiff. Kommt mit.« Fidelma lenkte ihre Schritte wieder zu den Kajüten hinunter, Ross folgte dicht hinter ihr. »Vielleicht sollten wir in den Kabinen darunter nach einer Leiche suchen?«

Sie hielt auf der Treppe inne und hob die Lampe. Das Geländer war blutverschmiert, die Treppenstufen mit getrocknetem Blut und die Seitenwände mit Blutspritzern bedeckt. Dieses Blut war älter als das auf dem Stück Leinen und das am Handlauf des Schiffes.

»Es gibt keine Blutflecken auf Deck«, bemerkte Ross. »Wer auch immer verletzt war, muß auf dieser Treppe verletzt worden und dann nach unten gegangen sein.«

Fidelma spitzte nachdenklich die Lippen.

»Beziehungsweise wurde unten verletzt und kam hier herauf, wo er jemandem begegnete, der die Wunde verband oder auf andere Weise verhinderte, daß das Blut aufs Deck tropfte. Trotzdem, laßt uns nachsehen, wohin die Spur führt.«

Am Ende des Niedergangs bückte sich Fidelma, um die Decksplanken im Lichtschein der Laterne zu un-tersuchen. Plötzlich kniff sie die Augen zusammen und unterdrückte einen Aufschrei.

»Hier unten sind noch mehr Spuren getrockneten Blutes.«

»Das gefällt mir gar nicht, Schwester«, murmelte Ross und blickte erneut ängstlich um sich. »Vielleicht spukt das Böse auf diesem Schiff herum?«

Fidelma richtete sich auf.

»Das einzig Böse ist, wenn überhaupt, das Böse, das von den Menschen kommt«, wies sie ihn zurecht.

»Aber Menschen allein könnten nicht eine ganze Besatzung samt Schiffsladung wegzaubern«, protestierte Ross.

Fidelma lächelte matt.

»Allerdings, das könnten sie. Und sie haben ihre Arbeit nur stümperhaft erledigt. Sie haben Blutflecken hinterlassen, die uns verraten, daß hier in der Tat Menschen am Werk waren. Geister, ob böse oder nicht, haben es nicht nötig, Blut zu vergießen, wenn sie Menschen vernichten wollen.«

Sie hob die Laterne und machte kehrt, um die beiden Kajüten am unteren Ende des Niedergangs in Augenschein zu nehmen.

Jemand hatte dem oder der Verwundeten - sie nahm an, daß das viele Blut von einem Schwerverletzten stammte - mit einem Messer oder einer anderen scharfen Waffe eine klaffende Wunde beigebracht, und zwar entweder am Fuße des Niedergangs oder in einer der Kajüten. Sie wandte sich der ersten zu, während Ross ihr widerwillig folgte.

Auf der Schwelle hielt sie inne, blickte sich um und versuchte, einen Schlüssel zu dem Geheimnis zu entdecken.

»Käpt’n!«

Einer von Ross’ Männern kletterte zu ihnen hinunter.

»Käpt’n, Odar schickt mich, um Euch zu sagen, daß wieder Wind aufkommt und daß die Strömung uns gegen die Felsen treibt.«

Ross wollte schon wieder fluchen, doch als sein Blick dem Fidelmas begegnete, begnügte er sich mit einem Knurren.

»Also gut. Befestigt ein Seil am Bug des Schiffes und sagt Odar, er soll sich bereithalten, es zu steuern. Ich werde es zu einem sicheren Ankerplatz schleppen.«

Der Mann eilte hinaus, und Ross wandte sich wieder an Fidelma.

»Am besten, Ihr kommt mit hinüber auf die barc, Schwester. Es wird nicht leicht sein, dieses Schiff zum Ufer zu manövrieren. Auf meiner Bark ist es sicherer.«

Fidelma wollte ihm gerade zögernd folgen, da fiel ihr Blick auf etwas, was ihr vorher entgangen war. Die offene Kajütentür hatte es verdeckt, solange sie mitten im Raum stand. Jetzt, da sie sich zum Gehen wandte, sah sie an einem Haken hinter der Tür etwas Ungewöhnliches hängen. Ungewöhnlich insofern, als es sich um eine tiag liubhair handelte, eine lederne Büchertasche. Fidelma war erstaunt, ausgerechnet in einer Schiffskajüte einen solchen Gegenstand zu entdecken. In Irland bewahrte man Bücher nicht in Regalen auf, sondern in Taschen, die an Haken oder Gestellen entlang der Wände der Bibliotheken aufgehängt waren und jeweils einen oder mehrere handgeschriebene Bände enthielten. Solche Taschen wurden auch benutzt, um Bücher von einem Ort zum anderen zu transportieren, zum Beispiel auf einer Missionsreise. Ein Missionar benötigte immer Evangelien, Gottesdienstordnungen und andere Schriften. Die tiag li-ubhair, die hinter der Kajütentür hing, wurde an einem Riemen um die Schulter getragen.

Fidelma merkte nicht, daß Ross am Fuße des Niederganges ungeduldig wartete.

Sie nahm die Tasche vom Haken und griff hinein. Darin befand sich eine kleine Pergamenthandschrift.

Plötzlich begann ihr Herz zu rasen, ihr Mund wurde trocken, sie blieb wie angewurzelt stehen. Das Blut hämmerte gegen ihre Schläfen. Einen Augenblick lang glaubte sie sich einer Ohnmacht nahe. Das Buch mit den pergamentenen Seiten war eine kleine, unscheinbare Handschrift, in schweres Kalbsleder gebunden, das mit hübschen Mustern aus Spiralen und Kreisen geprägt war. Fidelma wußte, daß es sich um ein Meßbuch handelte, noch bevor sie die Titelseite aufschlug. Sie wußte auch, welche Widmung sie dort finden würde.