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Es war jetzt über zwölf Monate her, daß Schwester Fidelma dieses Buch zum letzten Mal in ihren Händen gehalten hatte: an einem warmen Sommerabend in Rom, in dem von Kräuterduft erfüllten Garten des Lateranpalastes. Es war der Abend, bevor sie Rom verließ und nach Irland zurückkehrte. Sie hatte das Buch Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham überreicht, ihrem Freund und wagemutigen Gefährten, einem Sachsen aus dem Land des Südvolkes. Bruder Eadulf, der ihr geholfen hatte, den rätselhaften Mord an Äbtissin Etain in Whitby aufzuklären und danach, in Rom, den Mord an Wighard, dem designierten Erzbischof von Canterbury.

Das Buch, das sie nun hier, auf diesem geheimnisvollen, verlassenen Schiff, wiedergefunden hatte, war ihr Abschiedsgeschenk an ihren engsten Freund und Gefährten. Ein Geschenk, das ihnen beiden so viel bedeutet hatte, damals, bei jenem traurigen Abschied.

Fidelma spürte, wie die Kajüte zu schwanken und sich zu drehen begann. Sie versuchte, die Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, zu besänftigen und der fürchterlichen Angst, die ihr den Atem nahm, mit vernünftigen Argumenten zu begegnen. Benommen taumelte sie rückwärts und brach unvermittelt über der Koje zusammen.

Kapitel 3

»Schwester Fidelma! Alles in Ordnung?«

Ross’ Gesicht näherte sich dem Fidelmas, als sie die Augen aufschlug. Sie blinzelte. Sie war nicht wirklich ohnmächtig geworden, bloß ... sie blinzelte erneut und schalt sich insgeheim dafür, Schwäche gezeigt zu haben. Das war aber auch eine böse Überraschung! Was hatte dieses Buch, ihr Abschiedsgeschenk für Bruder Eadulf damals in Rom, jetzt in der Kajüte eines verlassenen gallischen Handelsschiffes vor der Küste von Muman zu suchen? Sie wußte, daß Eadulf sich nicht so ohne weiteres davon trennen würde. Und wenn dem so war, dann mußte er hier in der Kajüte gewesen sein, als Passagier auf diesem Handelsschiff.

»Schwester Fidelma!«

Ross’ Stimme überschlug sich vor Aufregung.

»Es tut mir leid«, erwiderte Fidelma langsam und erhob sich vorsichtig. Ross beugte sich vor, um ihr zu helfen.

»Ist Euch schwindelig geworden?« erkundigte er sich.

Sie schüttelte den Kopf. Erneut schalt sie sich dafür, daß sie ihre Gefühle so deutlich gezeigt hatte. Doch wäre es nicht ein noch größerer Selbstbetrug, sie zu verleugnen? Seit ihrem Abschied von Eadulf von Seax-mund’s Ham hatte sie ihre Gefühle für ihn unterdrückt. Er blieb damals als Sekretär von Theodor von Tarsus, dem neu ernannten Erzbischof von Canterbury, in Rom, während sie in ihre Heimat zurückkehrte.

Doch das vergangene Jahr war erfüllt gewesen von den Erinnerungen an ihn, von Einsamkeit und von Sehnsucht, von einer Art Heimweh nach ihm. Sie war wieder zu Hause, in ihrer Heimat, bei ihrem Volk, doch sie vermißte Eadulf. Sie vermißte ihre Streitgespräche, die Art, wie sie ihn wegen ihrer gegensätzlichen Ansichten und Weltanschauungen necken konnte, die Art, wie er ihr in seiner Gutmütigkeit immer wieder auf den Leim ging. Es gab zwischen ihnen heftige Meinungsverschiedenheiten, jedoch keinerlei Feindseligkeit.

Eadulf von Seaxmund’s Ham hatte in Irland studiert, in Durrow und später in Tuaim Brecain, bevor er sich in Glaubensfragen der Vorherrschaft Roms unterwarf und die Lehren des Heiligen Columban ablehnte.

Er war der einzige Mann in ihrem Alter, in dessen Gesellschaft sie sich wirklich wohlfühlte und sich ungezwungen verhalten konnte, ohne sich hinter ihrem Rang und dem Amt, das sie bekleidete, zu verstecken und ohne eine bestimmte Rolle spielen zu müssen, wie eine Schauspielerin in einem Theaterstück.

Eines wurde ihr jetzt klar: ihre Gefühle für Eadulf waren nicht nur rein freundschaftlicher Natur.

Ihr Abschiedsgeschenk an ihn nun herrenlos auf einem verlassenen Schiff vor der Küste Irlands zu entdecken löste in ihr heftigste Panik aus.

»Ross, dieses Schiff birgt ein Geheimnis.«

Ross verzog das Gesicht.

»Ich dachte, darüber hätten wir uns bereits geeinigt.«

Fidelma streckte ihm das Meßbuch entgegen, das sie in der Hand hielt.

»Das gehörte einem Freund von mir, den ich vor über einem Jahr in Rom zum letzten Mal gesehen habe. Einem guten Freund.«

Ross betrachtete es verlegen und kratzte sich am Kopf.

»Ein Zufall?« murmelte er undeutlich.

»Ein Zufall, in der Tat«, bestätigte Fidelma ernst. »Was mag mit den Leuten auf diesem Schiff geschehen sein? Ich muß es herausfinden. Ich muß herausfinden, was mit meinem Freund geschehen ist.«

Ross blickte verlegen drein.

»Wir müssen zurück auf die barc, Schwester. Der Wind wird wieder stürmischer.«

»Ihr wollt das Schiff zum Ufer schleppen?«

»Genau.«

»Dann werde ich es gründlicher durchsuchen, sobald wir in ruhigeren Gewässern sind. Wohin wollt Ihr es bringen?«

Ross rieb sich das Kinn.

»Nun, der nächste Hafen liegt genau bei Euerm Reiseziel, Schwester. Vor der Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen.«

Fidelma atmete leise aus. Ihre Entdeckung hatte sie vorübergehend vergessen lassen, warum sie eigentlich auf Ross’ Schiff unterwegs war. Gestern morgen hatte der Abt von Ros Ailithir, bei dem sie sich gerade aufhielt, eine Nachricht von der Äbtissin dieser kleinen Gemeinschaft erhalten. Man hatte in der Abtei, die an der Spitze einer Halbinsel im äußersten Westen von Muman lag, eine unbekannte Tote entdeckt und fürchtete, es könnte sich um eine Nonne handeln, auch wenn es kaum eine Möglichkeit der Identifizierung gab. Der Kopf der Leiche fehlte. Die Äbtissin bat um die Unterstützung eines Brehon, eines Beamten der irischen Gerichtsbarkeit, der ihr helfen sollte, die Identität der Toten festzustellen und herauszufinden, wer für diesen Mord verantwortlich war.

Die Gemeinschaft gehörte zum Gerichtsbezirk von Abt Broce von Ros Ailithir, und der hatte Fidelma gebeten, die Untersuchung durchzuführen. Die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen lag nur eine Tagesreise mit dem Schiff entfernt, und so kam es, daß Fidelma nun auf Ross’ barc die zerklüftete Küste entlangfuhr.

Die Entdeckung des verlassenen gallischen Handelschiffes und der Büchertasche, die ihr Abschiedsgeschenk für Bruder Eadulf enthielt, hatte jeden Gedanken an den Anlaß ihrer Reise vorübergehend aus ihrem Gedächtnis verdrängt.

»Schwester«, sagte Ross noch einmal, »wir müssen auf die barc zurück.«

Widerwillig stimmte sie zu, verstaute das Meßbuch in der Ledertasche und schwang sie sich über die Schulter.

Ross’ Männer hatten Taue vom Bug des gallischen Schiffes an das Heck ihres kleineren Fahrzeugs gebunden. Odar und ein weiterer Matrose blieben an Bord, während Ross und Fidelma mit den anderen Besatzungsmitgliedern auf die Foracha zurückkehrten.

Fidelma war ganz in Gedanken versunken. Ross gab Anweisungen, um seine Bark von dem größeren Schiff zu lösen und vor den Wind zu drehen. Bald strafften sich die Abschleppseile, und das kleinere Schiff nahm Fahrt auf und zog das größere, das sich durch die kabbelige See wühlte, hinter sich her. Der Wind war wieder stürmisch, und zweifellos wäre das gallische Schiff ohne Ross’ Eingreifen schon längst an den nahegelegenen, versteckten Felsen und Riffen gesunken.

Ross ließ die straffgespannten Seile und das große, schlingernde Schiff hinter ihnen nicht aus den Augen. Doch Odar war ein ausgezeichneter Steuermann und hielt das Schiff geschickt unter Kontrolle, so daß Ross den Kurs bestimmen konnte: er steuerte eine der großen Buchten an, die von zwei felsigen, sich nach Südwesten erstreckenden Halbinseln gebildet wurde, und hielt auf eine der langgestreckten Landzungen zu, auf der sich in der Ferne, über den Gipfeln einer hohen Bergkette, eine gewaltige Felskuppel erhob. Vor der Halbinsel tauchte der gedrungene, knollenförmige Umriß einer großen Insel auf, und Ross befahl seinem Steuermann, die barc in die Meerenge zwischen diesem Eiland und der Küste der Halbinsel hineinzuma-növieren.