»Er tut mir leid, er tut mir wirklich leid«, sagte Platonow zu Tschitschikow, als sie von Chlobujew Abschied genommen hatten und sein Gut verließen.
»Ein verlorener Sohn!« sagte Tschitschikow. »Mit solchen Menschen soll man nicht Mitleid haben.«
Bald dachten sie nicht mehr an ihn: Platonow, weil er die Lage der Menschen mit ebenso trägen und verschlafenen Augen betrachtete, wie alles in der Welt. Sein Herz krampfte sich wohl zusammen, wenn er fremde Leiden sah, doch der Eindruck drang niemals tief in seine Seele. Schon nach einigen Minuten dachte er nicht mehr an Chlobujew. Er dachte nicht an ihn, weil er auch an sich selbst nicht dachte; Tschitschikow dachte aber nicht an Chlobujew, weil seine Gedanken ganz ernsthaft mit dem eben abgeschlossenen Kauf beschäftigt waren. Jedenfalls wurde er jetzt, wo er plötzlich kein phantastischer, sondern ein wahrer und echter Besitzer eines durchaus nicht phantastischen Gutes geworden war, nachdenklich, seine Gedanken und Absichten waren solider geworden und verliehen auch seinem Gesicht unwillkürlich einen bedeutenden Ausdruck. – Geduld, Arbeit! Die sind nicht so schwer: ich habe sie ja schon als Wickelkind kennengelernt. Mir bedeuten sie nichts Neues. Werde ich aber jetzt, in diesem Alter, so viel Geduld aufbringen können wie in der Jugend? – Von welcher Seite er den abgeschlossenen Kauf auch betrachtete, er sah, daß das Geschäft in jedem Falle sehr vorteilhaft war. Er konnte zuvor die besseren Parzellen verkaufen und dann auf den Rest eine Hypothek aufnehmen. Er konnte es auch so machen: das Gut selbst verwalten und ein Landwirt von der Art Kostanschoglos werden, wobei ihm die Ratschläge dieses Nachbarn und Wohltäters zugute kämen. Er konnte auch das Gut weiter verkaufen (natürlich nur, wenn er keine Lust hätte, es selbst zu bewirtschaften) und sich die Flüchtigen und Toten behalten. In diesem Falle bot sich ihm auch noch ein anderer Vorteiclass="underline" er könnte diese Gegend verlassen und Kostanschoglo das entliehene Geld nicht zurückzahlen. Ein seltsamer Gedanke! Man kann nicht sagen, daß Tschitschikow ihn selbst gefaßt hätte – nein, er stand wie von selbst vor ihm da, ihn neckend, ihm zulächelnd und zublinzelnd. Dieser verführerische, liederliche Gedanke! Wer ist der Schöpfer solcher plötzlich über uns kommenden Gedanken? ... Er empfand eine Freude, die Freude, daß er nun ein Gutsbesitzer sei – kein phantastischer, sondern ein wirklicher Gutsbesitzer, der Ländereien und Leibeigene besaß, und zwar keine imaginären, bloß in der Phantasie existierenden, sondern wirkliche Leibeigene. Und er fing allmählich an, auf seinem Platze zu hüpfen, sich die Hände zu reiben, sich selbst zuzublinzeln; er führte die zusammengeballte Hand wie eine Trompete an die Lippen und blies einen Marsch; er richtete sogar laut an sich selbst einige ermunternde Worte und nannte sich »Schnäuzchen« und »Kapaunchen«. Aber er besann sich; daß er nicht allein war, wurde plötzlich still und bemühte sich, den maßlosen Ausdruck der Begeisterung zu unterdrücken; als Platonow, der einige von diesen Tönen für an ihn gerichtete Worte hielt, ihn fragte: »Wie?«, antwortete er: »Nichts.«
Jetzt erst sah er sich um und stellte fest, daß sie schon längst durch ein hübsches Gehölz fuhren; eine schöne Mauer von Birken zog sich rechts und links hin. Die weißen Stämme der Birken und Espen leuchteten wie ein schneeweißer Staketenzaun und hoben sich schlank und leicht vom zarten Grün der erst vor kurzem aufgegangenen Blätter ab. Die Nachtigallen schmetterten um die Wette aus dem Dickicht. Im Grase leuchteten gelbe Waldtulpen. Er konnte gar nicht begreifen, wie er so plötzlich an diesen herrlichen Ort gelangt war, wo er doch soeben erst offene Felder um sich gesehen hatte. Zwischen den Bäumen leuchtete eine weiße steinerne Kirche auf; und am anderen Ende zeigte sich ein Gitter. Am Ende der Straße wurde ein Herr in einer Mütze mit einem Knotenstock in der Hand sichtbar. Er ging ihnen entgegen, und ein englischer Hund auf langen dünnen Beinen lief vor ihm her.
»Das ist ja mein Bruder«, sagte Platonow. »Kutscher, halt!« Er stieg aus dem Wagen. Tschitschikow tat dasselbe. Die Hunde hatten schon einander begrüßt. Der dünnbeinige, schnelle Asor leckte den Jarb mit seiner schnellen Zunge die Schnauze; dann leckte er Platonow die Hand und sprang an Tschitschikow in die Höhe und leckte ihm das Ohr.
Die Brüder umarmten sich.
»Ich bitte dich, Platon, was stellst du an?« fragte der Bruder, den man Wassilij nannte.
»Was habe ich denn angestellt?« entgegnete Platon gleichgültig.
»Was ist denn das? Seit drei Tagen höre ich nichts von dir. Der Stallknecht hat deinen Hengst von Pjetuch heimgebracht und gesagt: ›Er ist mit irgendeinem Herrn weggefahren.‹ Hättest du mir doch nur ein Wort gesagt, wohin, wozu und auf wie lange! Ich bitte dich, Bruder, benimmt man sich so? Ich habe mir in diesen drei Tagen Gott weiß was für Gedanken gemacht!«
»Was soll ich machen? Ich habe es vergessen«, sagte Plantonow. »Wir waren bei Konstantin Fjodorowitsch eingekehrt: er läßt dich grüßen, die Schwester ebenfalls. Pawel Iwanowitsch, ich will Ihnen meinen Bruder Wassilij vorstellen. – Bruder Wassilij, das ist Pawel Iwanowitsch Tschitschikow.«
Die beiden leisteten der Aufforderung, sich kennenzulernen, Folge: sie drückten einander die Hand, nahmen die Mützen ab und küßten sich.
– Wer mag wohl dieser Tschitschikow sein? – dachte sich Bruder Wassilij. – Bruder Platon ist in seinen Bekanntschaften so gar nicht wählerisch. – Er musterte Tschitschikow, soweit es der Anstand erlaubte, und sah, daß es ein seinem Äußeren nach höchst ehrbarer Mensch war.
Auch Tschitschikow musterte seinerseits, soweit es der Anstand erlaubte, den Bruder Wassilij und stellte fest, daß er etwas kleiner, dunkelhaariger und viel weniger hübsch war als Platon, daß aber seine Gesichtszüge viel mehr Leben, Begeisterung und Herzensgüte zeigten. Es war ihm anzusehen, daß er nicht so verschlafen war wie sein Bruder. Dieser Umstand interessierte aber unseren Pawel Iwanowitsch recht wenig.
»Wassilij, ich habe mich entschlossen, mit Pawel Iwanowitsch eine kleine Reise durch das heilige Rußland zu machen. Vielleicht wird das meine ewige Langweile zerstreuen.«
»Wie hast du dich so plötzlich entschließen können?« sagte Bruder Wassilij ganz bestürzt; beinahe hätte er noch gesagt: – Und dazu noch mit einem Menschen, den du zum erstenmal in deinem Leben siehst, der vielleicht ein Schuft und weiß der Teufel was ist! – Er schielte mißtrauisch nach Tschitschikow und sah wieder ein erstaunlich ehrbares Gesicht.
Sie traten rechts in ein Tor. Der Hof war alt; auch das Haus war alt, wie man sie heute nicht mehr baut: es hatte ein hohes Giebeldach mit seitlichen Vorsprüngen. In der Mitte des Hofes erhoben sich zwei mächtige Linden, die ihn fast ganz mit ihrem Schatten bedeckten. Unter ihnen standen zahlreiche Holzbänke. Blühende Flieder- und Faulbeerbüsche umgaben den Hof wie ein Perlenhalsband zugleich mit dem Zaune, der unter ihren Blüten und Blättern ganz verschwand. Auch das Herrenhaus war ganz von den Bäumen verdeckt, nur die Türen und Fenster blickten freundlich zwischen den Ästen hervor. Durch die pfeilgeraden Baumstämme sah man die weißen Küchen, Keller und Vorratskammern schimmern. Alles befand sich mitten im Gehölz. Die Nachtigallen schlugen laut und erfüllten das ganze Gehölz mit ihrem Gesang. Unwillkürlich wurde das Herz von einem angenehmen und sorglosen Gefühl umfangen. Alles erinnerte an jene sorglosen Zeiten, als das Leben noch so gutmütig und einfach war. Bruder Wassilij forderte Tschitschikow auf, Platz zu nehmen. Sie setzten sich auf die Bänke unter den Linden.