Wieviel Kirchen, Klöster mit Kuppeln und Türmen und Kreuzen über das ganze fromme Rußland verstreut sind, soviel Völker, Stämme und Geschlechter bewegen sich auf dem Antlitze der Erde. Und jedes Volk, das in sich das Pfand der Kraft trägt und von schöpferischen Eigentümlichkeiten seiner Seele, seiner grellen Eigenart und anderen Gottesgaben erfüllt ist, zeichnet sich auch durch seinen eigenen Wortschatz aus: wenn es einen Gegenstand mit einem Namen bezeichnet, so spiegelt diese Bezeichnung auch einen Teil des Volkscharakters wider. Herzenserkenntnis und Lebensweisheit spricht aus dem Worte des Briten; leicht und elegant blitzt das kurzlebige Wort des Franzosen auf, das sofort wieder verschwindet; kompliziert und schwer verständlich ist das superkluge und dürre Wort des Deutschen; aber es gibt kein Wort, das mit solchem Schwung und kühn direkt aus dem Herzen käme, das so brodelte und zappelte wie das treffende russische Wort.
Sechstes Kapitel
Früher, vor langer Zeit, in den Jahren meiner Jugend, in den Jahren der unwiederbringlich verflogenen Kindheit, war es mir immer eine Lust, mich zum erstenmal einem unbekannten Orte zu nähern: ganz gleich, ob es ein Dörfchen, ein armes Kreisstädtchen, ein Kirchdorf oder ein Flecken war – mein neugieriger kindlicher Blick entdeckte da immer viel Interessantes. Jedes Gebäude, alles, was nur den Stempel von Besonderem trug, fesselte und erstaunte mich. Ein steinernes Regierungsgebäude von der bekannten Architektur mit den vielen falschen Fenstern, das einsam inmitten eines Haufens aus Balken gezimmerter einstöckiger Bürgerhäuschen ragte; eine regelmäßige, ganz mit Weißblech gedeckte Kuppel über einer schneeweißen Kirche, ein Markt oder ein Provinzdandy, der im Städtchen auftauchte – nichts entging der frischen, scharfen Aufmerksamkeit. Die Nase aus dem Reisewagen herausgesteckt, betrachtete ich den mir noch unbekannten Schnitt irgendeines Rockes, die hölzernen Kisten mit Nägeln, mit Schwefel, der aus der Ferne gelb leuchtete, mit Rosinen und Seife, die in den Türen eines Gemüseladens neben Gläsern mit ausgetrocknetem Moskauer Konfekt prangten; ich betrachtete mit der gleichen Aufmerksamkeit den vorbeigehenden Infanterieoffizier, der Gott weiß aus welchem Gouvernement in diese langweilige Provinz verschlagen war, und den Kaufmann in langem Überrock, der in einer leichten Droschke an mir vorüberflog – und ich folgte ihnen mit meinen Gedanken in ihr elendes Dasein. Ging ein Kreisbeamter an mir vorbei, so fragte ich mich gleich, wohin er wohl gehen möge: ob zu einer Abendunterhaltung bei einem seiner Kollegen oder direkt zu sich nach Hause, um erst ein halbes Stündchen, solange die Abenddämmerung noch nicht angebrochen ist, draußen vor der Haustüre zu sitzen und sich dann mit seiner Mutter, seiner Frau und der Schwester dieser Frau ans frühe Abendessen zu setzen, und worüber sie wohl sprechen werden, wenn das leibeigene Mädel mit den Perlengehängen oder ein Junge in dicker Joppe nach der Suppe ein Talglicht in dem alten Hausleuchter hereinbringt. Wenn ich mich dem Dorfe irgendeines Gutsbesitzers näherte, betrachtete ich neugierig den hohen, schmalen hölzernen Glockenturm oder die breite, dunkle, alte hölzerne Kirche. Einladend schimmerten durch das Laub der Bäume das rote Dach und die weißen Schornsteine des Herrenhauses, und ich wartete mit Ungeduld, daß die es verdeckenden Gärten zu beiden Seiten zurücktreten und das Haus mit seiner damals durchaus nicht banalen Fassade (heute sind die Fassaden leider nicht mehr so!) zum Vorschein käme; und ich suchte zu erraten: was für ein Mensch der Gutsbesitzer und ob er dick sei, ob er Söhne oder ganze sechs Töchter mit hellem Mädchenlachen und ewigen Spielen habe, von denen die jüngste immer wunderhübsch ist, ob sie schwarze Augen haben und ob er selbst ein lustiger Patron sei oder immer düster wie die letzten Septembertage in den Kalender schaue und über Korn und Weizen spreche, was für die Jugend so langweilig ist.
Heute nähere ich mich gleichgültig jedem unbekannten Dorfe und betrachte gleichgültig sein abgeschmacktes Äußere; mein abgekühlter Blick fühlt sich ungemütlich, nichts bringt mich zum Lachen; was in vergangenen Jahren eine lebhafte Bewegung in meinem Gesichte geweckt, was mich zum Lachen oder Reden gereizt hatte, gleitet jetzt an mir wirkungslos vorüber, und meine unbeweglichen Lippen bewahren ein teilnahmsloses Schweigen. Oh, meine Jugend, oh, meine einstige Frische!
Während Tschitschikow über den Spitznamen, den die Bauern Pljuschkin verliehen hatten, nachdachte und innerlich lachte, merkte er gar nicht, wie er mitten in ein ausgedehntes Kirchdorf mit einer Menge Bauernhäuser und Straßen geraten war. Bald wurde er jedoch darauf durch ein ordentliches Rütteln aufmerksam gemacht, das vom Knüppelpflaster herrührte und gegen welches das städtische Pflaster gar nichts ist. Die Balken hoben und senkten sich wie die Klaviertasten, und der unachtsame Reisende bekam entweder eine Beule im Nacken oder einen blauen Fleck auf der Stirne, oder es kam auch vor, daß er sich mit den eigenen Zähnen sehr schmerzhaft in die Spitze seiner eigenen Zunge biß. Tschitschikow nahm an fast allen Gebäuden des Dorfes eine eigentümliche Morschheit wahr: die Balken der Wände waren dunkel und alt; viele Dächer waren durchscheinend wie Siebe; von vielen war außer dem Firstbalken oben und Rippenstangen an den Seiten überhaupt nichts übriggeblieben. Es sah so aus, als hätten die Bewohner selbst die Bretter und Schindeln heruntergeholt, in der natürlich durchaus richtigen Erwägung, daß man bei Regenwetter die Häuser nicht deckt, daß sie bei trockenem Wetter auch so keinen Tropfen durchlassen und daß man sich mit seinem Weibe nicht unbedingt zu Hause vergnügen muß, wo es doch genügend Platz wie in der Schenke, so auch an der Landstraße, kurz überall gibt. Die Fenster waren sämtlich ohne Scheiben; einige waren nur mit Gras oder Kleidungsstücken verstopft; die von Brüstungen umgebenen kleinen Altane unter den Dächern, die Gott weiß zu welchem Zweck an vielen russischen Bauernhäusern angebracht werden, waren schief und dunkel geworden und wirkten nicht einmal malerisch. Hinter den Häusern erhoben sich reihenweise riesengroße Getreideschober, die anscheinend schon lange dastanden; ihre Farbe erinnerte an alte, schlecht gebrannte Ziegelsteine; oben wuchs auf ihnen allerlei Unkraut und an der Seite sogar hie und da ein Strauch. Das Getreide gehörte offenbar dem Gutsbesitzer. Zwischen den Getreideschobern und den morschen Dächern ragten bald rechts und bald links, je nach den Wendungen, die der Wagen machte, zwei Dorfkirchen dicht nebeneinander in die heitere Luft; die eine aus Holz und nicht mehr benutzt, die andere aus Stein, mit gelben Mauern voller Flecken und Risse. Hier und da blickte das Herrenhaus durch, das schließlich ganz sichtbar wurde an der Stelle, wo die Häuserreihe aufhörte und statt ihrer ein leeres, von einem niederen, stellenweise zerbrochenen Zaune eingefaßtes Gemüse- oder Kohlfeld kam. Dieses seltsame, ganz ungewöhnlich lange Palais sah wie ein altersschwacher Invalide aus. Stellenweise hatte es nur ein Geschoß und stellenweise zwei. Auf dem dunklen Dache, das dem Alter nicht überall sicheren Schutz bot, ragten einander gegenüber zwei Aussichtstürme, beide schief und der Farbe, mit der sie einst bedeckt gewesen, beraubt. Die Mauern zeigten hier und da das hölzerne Gitterwerk, von dem der Mörtel abgefallen war, und schienen nicht wenig von Regen, Stürmen und herbstlichen Wetterstürzen gelitten zu haben. Von den Fenstern standen nur zwei offen; die übrigen waren mit Läden verschlossen und zum Teil sogar mit Brettern vernagelt. Auch die beiden erwähnten Fenster waren ihrerseits halbblind; und auf dem einen prangte ein aufgeklebtes Dreieck aus blauem Zuckerpapier.