»Wo ist denn der Herr? Zu Hause?«
»Hier ist der Herr«, sagte der Hausverwalter.
»Wo denn?« wiederholte Tschitschikow.
»Sind Sie denn blind, Väterchen?« sagte der Hausverwalter. »Der Herr bin doch ich!«
Unser Held trat hier unwillkürlich einen Schritt zurück und sah den Mann genauer an. Er hatte schon verschiedene Leute gesehen und selbst solche, die meine Leser und ich wohl nie zu Gesicht bekommen werden; aber etwas Derartiges hatte er noch nie gesehen. Das Gesicht bot eigentlich nichts Besonderes: es war fast so, wie es viele magere Greise haben; nur das Kinn trat etwas weit vor, so daß er es immer mit einem Taschentuch zudecken mußte, um es nicht vollzuspucken. Die kleinen Äuglein waren noch nicht erloschen und bewegten sich unter den buschigen Augenbrauen wie die Mäuse, wenn sie ihre spitzen Schnäuzlein aus den dunklen Löchern hervorstecken, mit gespitzten Ohren und zitternden Schnurrbarthaaren ausspähen, ob nicht irgendwo ein Kater oder ein mutwilliger Junge lauere, und argwöhnisch die Luft beschnuppern. Viel bemerkenswerter war seine Kleidung. Man könnte wohl durch keine Mühe und keine Mittel feststellen, woraus sein Schlafrock zusammengesetzt war: die Ärmel und die Schöße waren dermaßen speckig, daß man sie für Juchtenleder halten konnte, aus dem man Stiefel macht; hinten hatte er statt zweier vier Schöße hängen, aus denen die Baumwolle in Knäueln herausquoll. Um den Hals hatte er etwas gewickelt, von dem man nicht sagen konnte, ob es ein Strumpf, ein Strumpfband oder eine Bauchbinde war; jedenfalls war es kein Halstuch. Mit einem Worte, hätte ihn Tschitschikow in diesem Kostüm irgendwo vor einer Kirchentüre getroffen, so hätte er ihm sicher eine Kupfermünze gegeben; denn zur Ehre unseres Helden muß gesagt werden, daß er ein mitleidiges Herz hatte und sich niemals enthalten konnte, einem armen Menschen eine Kupfermünze zu geben. Vor ihm stand aber kein Bettler, sondern ein Gutsbesitzer. Dieser Gutsbesitzer besaß über tausend leibeigene Seelen, und man müßte lange nach einem zweiten suchen, der solche Vorräte an Getreide und Mehl hätte, dessen Vorratskammern, Scheunen und Tennen mit der gleichen Menge von Leinwand, Tuch, gegerbter und ungegerbter Schaffelle, getrockneter Fische, Gemüse und Schwämme aller Art angefüllt waren. Jeder, der nur in seinen Arbeitshof hineinblickte, wo Riesenvorräte von Holzwaren und Geschirr jeder Art, die niemals in Gebrauch kamen, aufgestapelt waren, müßte sich auf den Moskauer Holzmarkt versetzt glauben, wohin sich alltäglich die tüchtigen Schwiegermütter, von ihren Köchinnen gefolgt, begeben und wo ganze weiße Berge von genagelten, gedrechselten, geflochtenen und gebastelten Holzwaren schimmern: Fässer, Halbfässer; Zuber, Büchsen, Kannen mit und ohne Nasen, Krüge, Behälter, in denen die Weiber ihre Waschlappen und sonstigen Kram verwahren, Kästen aus dünnen, gebogenen Espenbrettern, Gefäße aus Birkenrinde und viele andere Dinge, die das reiche wie das arme Rußland braucht. Wozu brauchte aber Pljuschkin eine solche Menge derartiger Erzeugnisse? Seinen Lebtag könnte er sie nicht mal in den beiden großen Gütern, die er hatte, aufbrauchen; aber auch das schien ihm noch zu wenig. Er gab sich mit diesem Besitz nicht zufrieden: jeden Tag ging er in die Straßen seines Dorfes, blickte unter alle Brückchen und Stege und nahm alles, was ihm in die Augen fiel, mit: eine alte Schuhsohle, einen Weiberlumpen, einen Eisennagel, einen Topfscherben – und tat es in den Haufen, den Tschitschikow im Winkel seines Zimmers bemerkt hatte. »Da geht der Fischer schon wieder auf den Fang!« sagten die Bauern, wenn sie ihn so gehen sahen. Und in der Tat: hinter ihm brauchte man die Straße nicht mehr zu kehren: wenn ein vorbeifahrender Offizier zufällig einen Sporen verlor, so wanderte dieser sofort in den bewußten Haufen; wenn ein Bauernweib beim Brunnen ihren Eimer vergaß, so schleppte er auch den Eimer weg. Wenn ihn übrigens ein Bauer dabei ertappte, so widersprach er nicht und gab den geraubten Gegenstand wieder heraus; war aber der Gegenstand schon in den Haufen geraten, dann war es aus: er schwor, daß der Gegenstand sein Eigentum sei, daß er ihn dann und dann und von dem und dem gekauft oder von seinem Großvater geerbt habe. Auch in seinem Zimmer hob er alles vom Boden auf, was er nur sah: ein Endchen Siegellack, ein Fetzchen Papier, ein Federchen – und legte alles auf den Sekretär oder auf die Fensterbank. Und doch gab es eine Zeit, wo er nur ein sparsamer Hausherr gewesen war! Er hatte eine Frau und eine Familie gehabt, und mancher Nachbar suchte ihn auf, um bei ihm zu Mittag zu essen, seine Belehrungen zu hören und von ihm die Kunst der Hauswirtschaft und weise Sparsamkeit zu lernen. Alles floß lebendig und im Gleichtakt dahin: die Mühlen und die Walkwerke bewegten sich, die Tuchfabriken, Hobelbänke und Webstühle arbeiteten; in alles drang das scharfblickende Auge des Hausherrn ein, und wie die fleißige Spinne lief er unruhig, doch tätig von einem Ende seines Spinngewebes zum anderen. Seine Gesichtszüge spiegelten keine allzu starken Gefühle wieder, doch aus seinen Augen lugte Klugheit hervor; seine Worte zeugten von Erfahrung und Weltkenntnis, und der Gast hörte ihm mit Vergnügen zu; die gesprächige und freundliche Hausfrau war wegen ihrer Gastfreundschaft berühmt; der Gast wurde von zwei lieblichen, blonden Töchtern empfangen, die so frisch waren, wie zwei Rosen; sein Söhnchen, ein aufgewecktes Kind, lief jedem Gast entgegen und küßte ihn, ohne danach zu fragen, ob es diesem angenehm war oder nicht. Im ganzen Hause standen die Fenster offen; im Zwischenstock wohnte der französische Hauslehrer, der sich wunderbar zu rasieren verstand und ein glänzender Schütze war: jeden Tag brachte er Birkhühner oder Wildenten zu Mittag, zuweilen auch nur Sperlingseier, aus denen er sich eine Eierspeise machen ließ, die außer ihm kein Mensch im Hause aß. Im gleichen Zwischenstock wohnte auch eine Landsmännin von ihm, die Erzieherin der beiden jungen Mädchen. Der Hausherr selbst erschien bei Tisch stets in einem langen Rock, der zwar etwas abgetragen, sonst aber sauber war; die Ellbogen waren in Ordnung, und am ganzen Anzug war nichts geflickt. Doch die gute Hausfrau starb; ein Teil der Schlüssel und mit diesen auch ein Teil der kleinen Sorgen fielen ihm zu. Pljuschkin wurde unruhig und, wie die meisten Witwer, argwöhnischer und geiziger. Auf seine ältere Tochter, Alexandra Stepanowna, konnte er sich nicht in allen Dingen verlassen, und hatte auch recht, denn Alexandra Stepanowna brannte bald darauf mit einem Stabsrittmeister von einem Gott weiß welchen Kavallerieregiment durch und ließ sich mit ihm in aller Eile in irgendeiner Dorfkirche trauen, da sie wußte, daß ihr Vater alle Offiziere aus dem seltsamen Vorurteil heraus, daß sie sämtlich Kartenspieler und Verschwender seien, nicht leiden konnte. Der Vater schickte ihr seinen Fluch nach, unternahm aber nichts, um sie zur Rückkehr zu bewegen. Im Hause wurde es nun noch leerer. Der Besitzer zeigte immer mehr Geiz; die silbergrauen Fäden, die treuen Begleiter des Geizes, die in seinen rauhen Haaren aufblitzten, ließen diesen sich noch mehr entwickeln. Der französische Hauslehrer wurde entlassen, weil der Sohn schon in den Staatsdienst treten sollte; auch die Madame wurde davongejagt, weil es sich zeigte, daß sie an der Entführung Alexandra Stepanownas nicht unbeteiligt war. Der Sohn, den der Vater in die Gouvernementsstadt geschickt hatte, damit er im Rentamte den eigentlichen Staatsdienst kennenlerne, trat statt dessen in ein Regiment ein und schrieb seinem Vater nach vollzogener Tatsache einen Brief, in dem er ihn um Geld für die Uniformierung bat; es versteht sich von selbst, daß er nur das bekam, was man im Volksmunde eine Feige nennt. Schließlich starb auch die jüngere Tochter, die ihm noch geblieben war, und der Alte stand auf einmal als der Behüter, Verwalter und Besitzer seiner Reichtümer ganz allein da. Das einsame Leben gab seinem Geiz, der bekanntlich einen Wolfshunger hat und um so unersättlicher wird, je mehr er verzehrt, reichliche Nahrung; die menschlichen Gefühle, die in ihm auch ohnehin niemals tief gewesen waren, schwanden von Stunde zu Stunde, und jeden Tag ging in dieser Ruine etwas verloren. Nun mußte es sich gerade um diese Zeit, wie zur Bestätigung seiner Ansicht von den Offizieren, treffen, daß sein Sohn große Verluste im Kartenspiel hatte; er schickte ihm seinen aus tiefster Seele kommenden väterlichen Fluch und interessierte sich von nun an nicht mehr, ob er noch lebe. Mit jedem Jahr verringerte sich die Zahl der offenen Fenster in seinem Hause, und zuletzt blieben nur noch zwei übrig, von denen das eine, wie es der Leser schon sah, mit Papier überklebt war; mit jedem Jahre verlor er die Hauptzweige seiner Wirtschaft immer mehr aus dem Auge und wandte seine ganze kleinliche Aufmerksamkeit den Papierchen und Federchen zu, die er vom Fußboden auflas; immer unnachgiebiger wurde er gegen die Leute, die zu ihm kamen, um die Produkte seiner Wirtschaft zu kaufen: die Käufer versuchten anfangs noch zu handeln und zu feilschen, gaben ihn aber schließlich ganz auf und sagten, daß er ein Teufel und kein Mensch sei; das Heu und das Getreide verfaulten; die Heu- und Getreideschober verwandelten sich in reinsten Mist, so daß man auf ihnen sogar Kohl bauen konnte; das Mehl wurde in den Kellern zu Stein, so daß man es mit dem Beil bearbeiten mußte; das Tuch, die Leinwand und die anderen hausgewebten Stoffe durfte man gar nicht anrühren: sie zerfielen zu Staub. Er wußte selbst nicht mehr, was und wieviel er besaß, und erinnerte sich nur noch daran, daß an einer bestimmten Stelle im Schrank eine Flasche mit einem Restchen Likör stand, auf der er selbst ein Merkzeichen angebracht hatte, damit niemand hinter seinem Rücken auch einen Tropfen austrinke; auch wußte er noch, wo ein Federchen oder ein Endchen Siegellack lag. Die Wirtschaft brachte aber den gleichen Ertrag ein wie früher: jeder Bauer mußte genau wie früher den gleichen Zins entrichten, jedes Bauernweib hatte noch immer die gleiche Menge Nüsse abzuliefern und die Weberin die gleiche Menge Leinwand herzustellen. Das alles kam in die Vorratskammern, wo es verfaulte und zerfiel, und so wurde er mit der Zeit auch selbst zu einer durchfaulten Stelle an der Menschheit. Alexandra Stepanowna kam zweimal mit ihrem kleinen Sohn zu ihm gefahren und versuchte, von ihm wenigstens etwas zu bekommen: das Wanderleben mit dem Stabsrittmeister war wohl gar nicht so anziehend, wie es ihr vor der Hochzeit erschienen war. Pljuschkin verzieh ihr, ließ sogar seinen kleinen Enkel mit einem Knopf, der auf dem Tische lag, spielen, gab ihr aber keinen Pfennig Geld. Das nächste Mal kam Alexandra Stepanowna mit zwei kleinen Kindern und brachte ihm einen Stollen zum Tee und einen neuen Schlafrock mit, denn der alte Schlafrock ihres Vaters befand sich in einem Zustand, daß es nicht nur ein Jammer, sondern auch eine Schande war, ihn anzusehen. Pljuschkin nahm die beiden Enkelsöhne freundlich auf, setzte den einen auf sein rechtes und den anderen auf sein linkes Knie und ließ sie wie auf richtigen Pferden reiten; den Stollen und den Schlafrock nahm er an, gab jedoch seiner Tochter nichts, und so zog Alexandra Stepanowna, ohne etwas erreicht zu haben, wieder ab.