»Was Sie nicht sagen! Sind wirklich viele gestorben?« fragte Tschitschikow teilnahmsvoll.
»Ja, viele kamen auf den Friedhof.«
»Und darf ich fragen, wie viele?«
»An die achtzig Seelen.«
»Nein, wirklich?«
»Ich werde doch nicht lügen, Väterchen.«
»Gestatten Sie noch die Frage: Sie meinen doch die Seelen, die nach der Einreichung der letzten Revisionslisten gestorben sind?«
»Dafür würde ich noch Gott danken!« sagte Pljuschkin. »Seit jener Zeit werden es sogar an die hundertzwanzig sein.«
»Tatsächlich? Ganze hundertzwanzig?« rief Tschitschikow und machte sogar vor Erstaunen den Mund auf.
»Ich bin zu alt, Väterchen, um zu lügen: das siebzigste Jahr lebe ich schon auf der Welt!« sagte Pljuschkin. Er schien durch den beinahe freudigen Ausruf Tschitschikows verletzt. Auch Tschitschikow sah jetzt ein, daß diese Teilnahmlosigkeit gegen ein fremdes Unglück unschicklich war; darum seufzte er und sprach Pljuschkin sein Beileid aus.
»Das Beileid kann man doch nicht in die Tasche stecken«, sagte Pljuschkin. »Hier in meiner Nähe wohnt ein Hauptmann, der Teufel weiß, wo er hergekommen ist; er behauptet, mein Verwandter zu sein. Immer sagt er: »Onkelchen! Onkelchen!« und küßt mir die Hand. Wenn er aber mit seinem Beileid kommt, so heult er so, daß man sich die Ohren zuhalten muß. Ist ganz rot von Gesicht, hat wohl den Schnaps für sein Leben gern. Er hat sein ganzes Geld verputzt, als er noch Offizier war, oder eine Schauspielerin hat es ihm herausgelockt; darum kommt er jetzt mit seinem Beileid!«
Tschitschikow bemühte sich, ihm klarzumachen, daß sein Beileid ganz anders als das des Hauptmanns sei und daß er es nicht mit leeren Worten, sondern durch die Tat beweisen wolle. Ohne weitere Umschweife erklärte er sich unverzüglich bereit, für alle die Bauern, die auf eine so unglückliche Weise gestorben waren, aus eigener Tasche die Abgaben zu entrichten. Dieser Vorschlag versetzte Pljuschkin in höchstes Erstaunen. Er glotzte ihn lange an und fragte zuletzt: »Waren Sie vielleicht im Militärdienst, Väterchen?«
»Nein«, entgegnete Tschitschikow nicht ohne List. »Ich war nur im Zivildienste.«
»Im Zivildienste?« wiederholte Pljuschkin und begann die Lippen zu bewegen, als ob er etwas kaute. »Wie ist es nun? Das wäre doch ein Schaden für Sie?«
»Um Ihnen ein Vergnügen zu bereiten, bin ich auch bereit, den Schaden auf mich zu nehmen.«
»Ach, Väterchen! Ach, Wohltäter!« rief Pljuschkin aus und merkte in seiner Freude gar nicht, daß aus seiner Nase auf eine wenig malerische Weise eine Prise Schnupftabak wie dicker Kaffee hervorquoll und daß die Schöße seines Schlafrocks aufgingen und eine Unterwäsche zeigten, die nicht gerade anständig aussah. »Was haben Sie mir armem Greis für eine Freude erwiesen! Ach, du lieber Gott! Ihr Heiligen!« Weiter kam Pljuschkin nicht. Aber nach kaum einer Minute war diese Freude, die so plötzlich sein hölzernes Gesicht erleuchtet hatte, schon wieder ebenso plötzlich verschwunden, als wäre sie überhaupt nicht gewesen, und sein Gesicht nahm wieder den besorgten Ausdruck an. Er wischte sich sogar das Gesicht mit dem Taschentuch ab, ballte dann letzteres zusammen und fuhr sich damit über die Oberlippe.
»Wie ist es nun, mit Verlaub, nehmen Sie es mir nicht übeclass="underline" werden Sie die Abgaben für sie alljährlich mir oder an die Staatskasse bezahlen?«
»Das wollen wir so machen: wir schließen über die Seelen einen Kaufvertrag ab, als ob sie lebende wären und als ob Sie sie mir verkauften.«
»Ja, einen Kaufvertrag ...« sagte Pljuschkin nachdenklich und begann wieder mit den Lippen zu kauen. »So ein Kaufvertrag ist ja gleich mit Ausgaben verbunden. Die Beamten sind heute ganz gewissenlos! Früher war die Sache mit einem halben Rubel in Kupfer und einem Sack Mehl abgetan; heute aber muß man ihnen einen ganzen Wagen Graupen schicken und noch einen roten Zehnrubelschein dazugeben, – diese Geldgier! Ich verstehe gar nicht, warum niemand dagegen etwas unternimmt. Man könnte ja so einem Beamten ein göttliches Wort sagen: so ein Wort dringt schließlich in jedes Herz! Man mag sagen, was man will, aber einem göttlichen Wort kann doch kein Mensch widerstehen!«
– Du wirst ihm wohl widerstehen! – dachte sich Tschitschikow und erklärte gleich darauf, daß er aus Achtung für Pljuschkin sogar bereit sei, die Kosten des Kaufvertrags auf sich zu nehmen.
Als Pljuschkin hörte, daß der Gast auch die Kosten des Kaufvertrags auf sich nehmen wollte, sagte er sich, daß er wohl sehr dumm sei und sich nur so stelle, als sei er im Zivildienst gewesen; in Wirklichkeit hätte er als Offizier gedient und Schauspielerinnen den Hof gemacht. Dabei konnte er aber seine Freude doch nicht verbergen und wünschte alles Tröstliche nicht nur ihm allein, sondern auch seinen Kinderchen, ohne sich erst zu erkundigen, ob er überhaupt welche habe. Dann trat er ans Fenster, trommelte mit den Fingern auf die Scheibe und rief »Proschka!« Nach einer Weile hörte man, wie jemand in den Flur gelaufen kam und dort lange mit den Stiefeln klopfte. Endlich ging die Türe auf, und ins Zimmer trat Proschka, ein etwa dreizehnjähriger Junge in so großen Stiefeln, daß sie ihm beim Gehen beinahe von den Füßen fielen. Es sei gleich hier mitgeteilt, warum Proschka so große Stiefel anhatte: Pljuschkin besaß für sein gesamtes Hausgesinde nur ein einziges Paar Stiefel, das sich immer im Flur befinden mußte. Ein jeder, der in die herrschaftlichen Gemächer berufen wurde, mußte erst barfuß durch den ganzen Hof tanzen; im Flur aber zog er die Stiefel an und betrat in diesen das Zimmer. Wenn er wieder ging, ließ er die Stiefel im Flur stehen und legte den weiteren Weg auf seinen natürlichen Sohlen zurück. Wenn man im Herbste, besonders um die Zeit der Morgenfröste, zum Fenster hinausblickte, sah man das ganze Gesinde solche Sprünge durch den Hof machen, wie sie auch dem geübtesten Theatertänzer kaum gelingen.
»Schauen Sie sich nur diese Fratze an, Väterchen!« sagte Pljuschkin zu Tschitschikow, mit dem Finger auf Proschka zeigend. »Er ist dumm wie ein Stück Holz, wenn man aber etwas liegenläßt, so stiehlt er es im Nu! – Nun, was bist du hergekommen, Dummkopf? Sag’, was bist du gekommen?« Darauf schwieg er eine Weile, was Proschka gleichfalls mit Schweigen beantwortete. »Setz’ mal den Samowar auf, hörst du? Und nimm diesen Schlüssel, gib ihn der Mawra, sie soll in die Speisekammer gehen: dort liegt auf dem Brett ein Zwieback vom Stollen, den Alexandra Stepanowna mitgebracht hat – diesen Zwieback soll sie zum Tee bringen! Wart’, wo willst du schon hin? Esel! Ach, bist du ein Esel! ... Dir steckt wohl der Teufel in den Füßen! ... Hör’ erst, was man dir sagt. Der Zwieback ist oben wohl etwas verschimmelt, also soll sie ihn mit dem Messer abkratzen; die Krümel soll sie aber nicht wegwerfen, sondern in den Hühnerstall tragen. Paß auf, Bruder, daß du mir nicht selbst in die Speisekammer gehst. Sonst kriegst du was mit Birkenruten, du weißt schon, zum Appetit! Du hast auch schon jetzt einen guten Appetit, der soll noch besser werden! Versuch’ nur in die Speisekammer zu gehen, ich werde zum Fenster hinausschauen. – Man kann den Leuten in nichts trauen«, wandte er sich an Tschitschikow, als Proschka mit seinen Stiefeln verschwunden war. Darauf begann er auch seinen Gast argwöhnisch zu mustern. Dessen geradezu unerhörte Großmut kam ihm unwahrscheinlich vor, und er dachte sich: »Da soll sich der Teufel auskennen; vielleicht prahlt er nur, wie alle diese Verschwender: er lügt und lügt, nur um die Zeit zu verbringen und ein Glas Tee zu bekommen, und dann fährt er wieder fort!« Darum sagte er aus Vorsicht und zugleich, um Tschitschikow zu prüfen, daß es gut wäre, den Kaufvertrag möglichst bald abzuschließen; auf das Menschenleben sei doch kein Verlaß; heute lebt der Mensch, was aber mit ihm morgen geschieht, das weiß Gott allein.